27. September 2001

Michel Charlet, Bürgermeister von Chamonix
Europäische Verkehrswende am Dach der Alpen?

Die Probleme, die der internationale Strassengüterverkehr erzeugt, und die Prognosen eines weiterhin exponentiellen Wachstums des Güterverkehrs über die Alpen (Prognosen INRET Institut de recherche sur l’économie des transports et la sécurité) ) geben keinen Anlass zu Optimismus. Der von der französichen Regierung in Auftrag gegebene Bericht Brossier prognostiziert für den Zeithorizont 2012 eine Verdoppelung des Schwerverkehrs sowohl am Mont-Blanc wie auch in der Maurienne (Fréjus-Tunnel). Das Weissbuch der EU-Kommission, das am 12 September publiziert wurde, warnt Europa eindringlich vor diesem Problem und empfiehlt, den Strassenverkehr zu besteuern und den Erlös – dem Schweizer Beispiel folgend – in die Schiene zu investieren. In den Bergtälern ist die Situation bereits heute kritisch: in Chamonix, in der Maurienne, in der Region von Briançon, in den Vogesen und in den Pyrenäen. Aber auch an andern Punkten des westeuropäischen Strassennetzes ist der Sättigungspunkt erreicht: Rhonetal, Rheintal, grösse Häfen (Hamburg, Rotterdam). Je mehr Infrastrukturen für den Schwerverkehr gebaut werden, desto höllischer dreht sich die Spirale. Der Rechnungshof hat die politischen Kräfte Frankreichs angesichts dieser unbefriedigenden Situation des Verkehrs und wegen der Nicht-Respektierung des LOTI (Loi d‘orientation des transports intérieurs) bereits gewarnt. Wir müssen uns beim alpenquerenden Verkehr für eine Politik einsetzen, die sich an drei grossen Zeilen orientiert:am Umweltschutz
an der Sicherheit für Menschen und Güter
an der wirtschaftlichen Entwicklung
Die Wachstumsaussichten des alpenquerenden Güterverkehrs lassen keine Zweifel: Die Strasseninfrastrukturen sind an den Kapazitätsgrenzen angelangt, und – trotz den neusten grossen Worten – gibt es einen himmelschreienden Mangel an Investitionen zugunsten der Schiene oder anderer Verkehrsträger, die allein eine Entwicklung einer anderen Verkehrspolitik (Kombiverkehr …) auf europäischem Niveau erlauben würden. In diesem Zusammenhang hat der Fall von Chamonix eine besondere Bedeutung. Das Tal von Chamonix beklagt sich seit 1989 über diese selbstmörderische Politik, welche die Umwelt, die Sicherheit und die Gesundheit der Bevölkerung schwer beeinträchtigt. Der Unfall vom März 1999 bringt es uns auf grausame Art täglich zum Bewusstsein. Das Unfallrisiko bleibt trotz der getätigten Aufrüstung des Tunnels sehr gross (Zufahrtsrampen, enger Tunnelquerschnitt), und die Sicherheit ist noch weit vom Optimum entfernt (Sicherheitsstollen, Belüftung…). Ausserdem zeigt eine neue Studie über die Luftverschmutzung, welche der Schwerverkehr in den Gebirgstälern verursacht, die Emfindlichkeit des Ökosystems der Gebirgsregionen. Ich bin überzeugt, dass der Mont-Blanc das Startzeichen für eine andere Verkehrspolitik bleiben muss. Dies umso mehr, als Alternativen vorhanden sind:Kurzfristig muss das bestehende Eisenbahnnetz, das mit wenig Kostenaufwand einen Teil der Güter aufnehmen könnte, die vor dem Unfall durch den Mont-Blanc transportiert wurden, besser genutzt werden, z.B. via die Route Dijon – Vallorbe – Simplon, die ein Potential von 5 Millionen Tonnen pro Jahr aufweist.
Mittelfristig muss die Politik freiwillige und zwingende Massnahmen gegen sinnlose Transporte ergreifen, die sich nur für die Transportunternehmen rechnen (Leerfahrten, Just-in-time-Transporte, Rückkehr zu kleinräumigeren Märkten); zudem sind – sobald sie zur Verfügung stehen – die im Bau befindlichen Eisenbahntunnel in der Schweiz zu nutzen.
Schliesslich sind im Hinblick auf die fernere Zukunft Garantien für eine schnelle Realisierung der Bahninfrastrukturen mit grossen Kapazitäten wie die geplante Bahnlinie Lyon – Turin zu erreichen. Leider müssen wir feststellen, dass wir seit zweit Jahren auf klare Zeichen der Regierung bezüglich Finanzierung dieser Infrastrukturen warten.
In Anbetracht all dieser Tatsachen ist der Kampf, den wir gegen die Rückkehr der Lastwagen zum Mont-Blanc führen, alles andere als egoistisch. Wir nehmen damit unseren Teil an der Verantwortung zur Lösung dieses grossen Gesllschaftsproblems wahr. Parallel zu den Aktionen, die wir seit vielen Jahren unternehmen, haben wir eine Volksbefragung zum Thema des Transitverkehrs durchgeführt. Heute folgen uns das italienische Tal von Courmayeur und die Region Briançon. Es wäre wichtig, dass auch andere, insbesondere in der Schweiz und in Österreich, folgen, um die Solidarität der Bevölkerung in den Alpen angesichts dieses grossen Problems, das grenzüberschreitend eine grosse Herausforderung für die Gesellschaft darstellt, zu demonstrieren.