21. August 2014

Lausanne ist die viertgrösste Stadt der Schweiz. Deren Präsident Daniel Brélaz sieht dunkle Wolken am Finanzhimmel und versteht nicht, weshalb am Gotthard schon wieder Milliarden investiert werden sollen.

ip. Das Parlament behandelt im Moment den Vorschlag des Bundesrats, am
Gotthard eine zweite Strassenröhre zu bauen. Wie beurteilen Sie diesen Vorschlag?
Ich sehe den Nutzen dieses Projekts nicht ein, da er nur eine minime Auswirkung auf die Bewältigung unserer Verkehrsprobleme hat. Die Bevölkerung hat bereits Milliarden für die NEAT und den Gotthard gesprochen. Warum noch einmal am gleichen Ort viel Geld für die Strasse ausgeben? Mich stört vor allem, dass die zweite Gotthardröhre die Agglomerationsprojekte konkurrenziert. Es sind mehr Ausgaben als Einnahmen vorgesehen. Und ich verstehe nicht, wieso die grossen Probleme der Agglomerationen nicht ernst genommen und stattdessen in die «zweite Liga» abgeschoben werden.

Eine Studie hat aufgezeigt, dass die langfristigen Unterhaltskosten einer zweiten Röhre in der Botschaft unterschätzt wurden.
Ein korrekter Verfahrensablauf benötigt Transparenz bei den Kosten. Bei einer solch grossen Baustelle – zudem noch im Bergesinneren – sind genügend Finanzreserven vorzusehen. Es sind ein Controlling-System und Ausgaben für den Unterhalt einzuplanen. Die Kosten dürfen nicht heruntergespielt werden, nur um dem Projekt zum Durchbruch zu verhelfen.

Die Kantone Genf und Waadt haben erklärt, dass sie nicht verstehen, wieso der Bundesrat die zweite Röhre als prioritär einstuft. Wo sehen Sie die Schwerpunkte?
Der Bundesrat legt seit 20 Jahren einen absoluten Schwerpunkt beim Gotthard. Zuerst mit dem Bau der Eisenbahnbasislinie und jetzt mit dem zweiten Strassentunnel. Diese Vorstellung «Gotthard über alles» war im XIII. Jahrhundert verständlich, sie ist es aber heute nicht mehr. Zudem ist selbst Uri, einer der Gründerkantone, gegen die zweite Röhre. Die Schweiz hat genügend andere sehr dringende Projekte, zum Beispiel in der Region Genfersee. So müssen wir in den nächsten 15 bis 20 Jahren für die Stadt Morges, die von der Autobahn durchschnitten wird, eine Lösung finden. Die Parteien unterstützen grossmehrheitlich die Umfahrung, nur die Grünen sind sich uneinig. Auch Genf, Lausanne, Nyon und Yverdon haben Projekte entwickelt, deren Finanzierung noch ungesichert ist. Schliesslich benötigen auch der öffentliche Verkehr sowie
der Fuss- und Veloverkehr Geld.

Sehen Sie denn eine direkte Verbindung zwischen den für die Agglomerationsprogramme zur Verfügung gestellten Mitteln und den Summen für die Tunnelsanierung?
Das kann man zu Recht befürchten. Die Finanzierung der Agglomerationsprogramme entspricht bei weitem nicht den Bedürfnissen. Nachdem das Volk den Preis der Autobahnvignette nicht heraufsetzen wollte, hat der Bundesrat die Liste der finanzierbaren Projekte verringern müssen. Das NAF-Projekt, ein Fonds zur Sicherstellung der Finanzierung der Nationalstrassen und der Aggloprogramme,
ist nicht konsensfähig. Ich sehe dunkle Wolken am Finanzhorizont heraufziehen.

Der durchschnittliche Tagesverkehr am Gotthard beträgt 17’500 Autos. Wie
aber sieht die Situation in Lausanne und Umgebung aus?
Selbst ganz einfache Strassen in den Aussengemeinden von Lausanne weisen eine höhere Verkehrsdichte auf…

Die Agglomeration von Lausanne hat viel in die Entwicklung des öffentlichen Verkehrs investiert, insbesondere mit den U-Bahn-Linien. Vor welchen Herausforderungen steht sie jetzt?
Lausanne ist dem Bundesrat dankbar für die Unterstützung beim Bau der U-Bahn. Eine dritte Linie ist vorgesehen, aber das Projekt musste stark redimensioniert werden, da nur die Hälfte der Finanzierung gesichert ist.

Die individuelle Mobilität wird sich in den nächsten Jahren stark verändern und der Führerschein hat bei der Jugend seinen hohen Stellenwert verloren. Wie sind solche Tendenzen bei der Infrastruktur zu berücksichtigen?
Ich stelle zwei Trends fest. Einerseits nimmt der Anteil der städtischen Bevölkerung zu, die kein eigenes Auto hat; 55% sind es in Basel, 46% etwa in Lausanne. Diese Menschen bleiben aber nicht einfach zu Hause, sondern sie bewegen sich anders fort. Andererseits entwickeln sich der öffentliche Verkehr und die «Mobility»-Autos. Sie bieten Leistungen auch ausserhalb der Ballungsgebiete an. Dadurch nimmt die Luftverschmutzung zwar ab, aber Staus gibt es weiterhin. Wir sollten daher in den Ballungsgebieten, dort, wo der Grossteil der Bevölkerung lebt, investieren.

Der Bundesrat ignoriert die in Verfassung und Gesetz festgeschriebenen Ziele bezüglich der Reduktion der Lastwagenfahrten durch die Alpen und schlägt gleichzeitig einen zweiten Strassentunnel am Gotthard vor. Wie stehen Sie dazu?
Der Bau eines zweiten Tunnels am Gotthard ist eine Provokation. Die Ziele der Alpen-Initiative sind zwar schwierig zu erreichen, dürfen aber deshalb nicht aufgegeben werden. Das Volk hat die zweite Strassenröhre am Gotthard mehrmals abgelehnt. Der Volkswille muss respektiert werden.

Ist der Vorschlag des Bundesrats glaubwürdig, einen zweiten Tunnel zu bauen, dann aber nur eine Spur pro Tunnel in Betrieb zu nehmen?
Selbst wenn wir annehmen, dass der Bundesrat diesen Vorschlag ehrlich gemeint hat, ist klar, dass nach dem Bau der Infrastruktur der Druck stark sein wird, alle vier dannzumal vorhandenen Spuren zur Verfügung zu stellen. Es wäre nur eine Frage der Zeit, bis der Tunnel voll genutzt würde. Ich möchte es so sagen: Dieses Versprechen entspricht dem eines Betrunkenen. Es kann langfristig nicht eingehalten werden, denn der Druck der Lastwagen- und Autolobby sowie der Europäischen Union wird riesig sein.

Glauben Sie, dass der nationale Zusammenhalt gefährdet ist, falls wie vorgeschlagen während der Sanierung des Gotthardtunnels ein wirksames Ersatzangebot auf der Schiene angeboten wird?
Für das Tessin bietet der bundesrätliche Vorschlag mit einer zweiten Strassenröhre nur einen einzigen Vorteil: dass der Verkehr während der Sanierungsarbeiten kaum gestört wird. Das ist aber sehr kurzfristig gedacht. Das Tessin kämpft bereits jetzt mit sehr grossen Verkehrsproblemen, die zum Teil hausgemacht sind, da das Tessin einen der höchsten Motorisierungsgrade Europas aufweist. Viele Tessinerinnen und Tessiner lehnen denn auch gerade wegen der grossen Verkehrsprobleme im eigenen Kanton die zweite Gotthardröhre ab.

Nein aus Zürich und Bellinzona
tob. Die Stadtoberhäupter von Zürich und Bellinzona sagen – gleich wie Daniel Brélaz aus Lausanne – Nein zur zweiten Gotthardröhre.

«Eine Fehlinvestition»
Corine Mauch, die Stadtpräsidentin von Zürich, sagte im «echo» vom August 2012, eine zweite Strassenröhre am Gotthard sei eine Fehlinvestition. Sie glaubt, dass man sich in 20 Jahren entweder über die Milliarden-Investition in die zweite Röhre ärgert, weil sie nicht voll genutzt werden darf, oder man benützt die zweite Röhre ganz und ärgert sich, dass die Milliarden-Investitionen in die NEAT nicht rentieren, weil man den Verkehr von der Bahn zurück auf die Strasse lockt.

«Neue Probleme»
Mario Branda, Stadtpräsident von Bellinzona, äusserte sich im «echo» vom Januar 2013 entschieden gegen die zweite Röhre. Sie würde mit Sicherheit mehr Verkehr mit sich bringen, insbesondere Transitlastwagen auf der Autobahn. Die einzige vernünftige Lösung bestehe darin, so Branda, bei der Sanierung verschiedene Massnahmen zu verknüpfen: den neuen Bahn-Basistunnel benutzen, Verladezüge für Autos und Lastwagen, längeres Offenhalten der Pässe, Sanierung nur in den Wintermonaten.