Eine Analyse des Unfalls am Gotthard-Basistunnel und seiner Auswirkungen auf den Schienengüterverkehr.
Der Unfall im Gotthard-Basistunnel diesen Sommer war und ist einschneidend – sowohl für den Personen- als auch den Güterverkehr auf der Schiene. Die wichtigste Nord-Süd-Verbindung der europäischen Schiene war lahmgelegt. Der Unfall verdeutlicht die Wichtigkeit des Gotthard-Basistunnel für den Schienengüterverkehr. Die Auswirkungen des Unfalls sind noch Monate danach offenkundig. Ohne Alternativrouten und Weiterentwicklungen des Schienengüterverkehrs wird jeder weitere Unfall das Vertrauen in die Schiene erschüttern und zu einer Rückverlagerung auf die Strasse führen.
Die Nachricht am 10. August 2023 schockierte die gesamte Bahnbranche: In der Weströhre des Gotthard-Basistunnels war ein Güterzug entgleist und hinterliess eine lange Spur der Zerstörung. Die wichtigste Nord-Süd-Verbindung des europäischen Schienenverkehrs war auf einmal lahmgelegt. Knapp zwei Wochen lang war der Tunnel aufgrund von Aufräum- und ersten Bauarbeiten komplett gesperrt. Heute können wieder rund 80 Prozent des Güterverkehrs in der unbeschädigten Oströhre durch den Tunnel fahren. Für den Personenverkehr war der Gotthard-Basistunnel lange ganz gesperrt, jetzt verkehren wieder einzelne Züge. Die Weströhre bleibt jedoch sicher bis zum September 2024 und somit für insgesamt ein Jahr geschlossen. Welche Probleme im europäischen Schienennetz deckte der Unfall auf? Und was sind die Folgen und Lehren daraus?
Die Neue Eisenbahn-Alpentransversale (NEAT) mit dem Gotthard-Basistunnel als Herzstück ist die direkteste und schnellste Verbindung von Norden in den Süden und umgekehrt. Dadurch ist sie für den transeuropäischen Schienengüterverkehr zur zentralen Strecke geworden. 70 Prozent aller Schienengütertransporte zwischen Rotterdam und Genua werden darüber abgewickelt.
Der Unfall zeigt, wie anfällig das transeuropäische Schienengüterverkehrsnetz ist. Dringend benötigte Ausweichrouten, welche eine ähnliche Kapazität aufweisen, fehlen. Die Folgen sind grosse Rückstaus aufgrund von Kapazitätsengpässen. Die Transportunternehmen reagieren darauf sehr empfindlich und beginnen viele Transporte zurück auf die Strasse zu verlagern. Dabei besteht die Gefahr, dass die rückverlagerten Güter nie mehr den Weg zurück auf die Schiene finden.
Rückverlagerung auf die Strasse
Der Schienengüterverkehr gilt als sehr sicher. Nur rund zehn Unfälle sind in der Schweiz jährlich zu verzeichnen. Dieses Argument wird unbedeutend, wenn bei einem Unfall keine Ausweichrouten bereitstehen, welche die verlorengegangene Kapazität auffangen können. Die drei Ausweichrouten Brennerpass-Strecke, Lötschberg-Simplon-Strecke und Gotthard-Bergstrecke besitzen schlichtweg nicht die Möglichkeiten dazu. Am Brenner wurden die Sanierungsarbeiten an den Eisenbahntunnels verfrüht beendet, damit ein paar wenige Güterzüge über die Brennerroute fahren konnten. Die Lötschberg-Simplon-Strecke kann ein wenig Abhilfe bieten, indem nun ein Güterzug mehr pro Stunde durch den Lötschberg-Basistunnel fährt, was neu 100 anstatt 80 Züge pro Tag bedeutet. Doch aufgrund des fehlenden 4-Meter-Korridor gibt es hier Beschränkungen für die Züge bezüglich Höhe, Breite und Gewicht. Auch über die Gotthard-Bergstrecke sind die Kapazitäten mit 20 Zügen pro Tag sehr beschränkt, und die Fahrzeit verlängert sich um mehr als eine Stunde. Erschwerend kommt hinzu, dass für die Bergstrecken mehr als eine Lokomotive eingesetzt werden muss. Gerade zur touristischen Hochkonjunktur im Frühling und Sommer 2024, in der auch mehr Personenzüge durch den Gotthard-Basistunnel fahren sollen, kann es zu Trassenengpässen kommen und im Güterverkehr die Rückverlagerung auf die Strasse verstärken.
Die fehlenden Ausweichrouten verstärken den in Europa ohnehin bereits zu beobachtenden Rückgang im Schienengüterverkehr. Besonders im kombinierten Verkehr gehen die Zahlen zurück. Wegen Qualitätsdefiziten und den gestiegenen Energie- und Bahnkosten gerät die Schiene immer mehr unter Druck. Viele Transportunternehmen verlagern darum ihre Fahrten auf die zwar gefährlichere und umweltschädlichere, aber billigere, flexiblere und schnellere Strasse. Diese Entwicklung weg von der Schiene hin zur Strasse lässt sich besonders bei den wichtigsten Zweigen des Schienengüterverkehrs wie der Stahl-, Chemie- und Papierindustrie beobachten.
Ausbau des Schienennetzes gefordert
Die Schweizer und die europäische Verlagerungspolitik werden in den nächsten Jahren noch stärker gefordert sein. Denn 2026 wird der Containerschiffhafen in Genua fertig ausgebaut sein. Dann werden dort die grössten Containerschiffe anlegen. Zudem wird mit der 53 Kilometer langen Neubaustrecke durch den Giovi, die Eisenbahnverbindung zwischen Genua–Mailand und Genua–Turin gestärkt. Der Güterverkehr von Süden nach Norden wird stark zunehmen, doch der Ausbau des Schienennetzes hinkt hinterher. Der Brenner-Basistunnel wird frühstens 2032 eröffnet. Die Zulaufstrecken zum Brenner in Italien und Deutschland lassen noch länger auf sich warten, der Vollausbau des Lötschberg-Basistunnels ist erst 2026 definitiv beschlossen und 2034 fertig. Auch der Ausbau der deutschen Rheintalbahn wird erst 2042 fertiggestellt. Somit stagniert die Kapazität im Schienengüterverkehr über mehrere Jahre, obwohl dringend mehr Kapazität gebraucht würde. Diese Tatsache ist schon lange bekannt. Die NEAT könnte die zusätzliche Kapazität stemmen. Jedoch müssten die Zulaufstrecken schnellstmöglich ausgebaut werden und auch im Süden der Schweiz die NEAT von Lugano nach Chiasso vollendet werden. Doch beim Ausbau der Zulaufstrecken fehlt ein koordiniertes Vorgehen, sodass es immer wieder zu Kapazitätsengpässen kommt.
Durch das Zusammenspiel von fehlenden Ausweichrouten und unkoordiniertem Bauen kann sich der Güterverkehr auf der Schiene nicht stabilisieren. Probleme, welche die billige Strasse nicht kennt. Hier sind die Kapazitäten vorhanden, und mit zunehmenden Transportvolumen wird der Preis noch weiter gedrückt werden. Die Schiene wird so künftig noch stärker unter Druck geraten. Ein weiterer Unfall auf der NEAT-Strecke hätte dann weitaus grössere Rückverlagerungseffekte als der kürzlich passierte Unfall.
Lösungsansätze und Forderungen
Schienengüterverkehr muss Priorität haben
Es kann von Glück gesprochen werden, dass der Basistunnel nach zwei Wochen für den Güterverkehr wieder befahrbar war. Die Rückverlagerungseffekte wären drastischer ausgefallen, je länger der Gotthard gesperrt gewesen wäre. Damit allfällige Folgen für den Schienengüterverkehr bei einer langfristigen Sperrung möglichst klein bleiben, müssen dringendst vorbeugende Massnahmen, getroffen werden. Zusätzlich zum bis im September 2024 gesperrten Gotthard-Basistunnel sind für das Jahr 2024 in der Schweiz, in Deutschland und Italien grosse Bauarbeiten auf der Nord-Süd-Achse geplant, welche den Schienengüterverkehr stark einschränken. Deshalb muss der Bund für das Jahr 2024 alles Mögliche unternehmen, um eine Rückverlagerung auf die Strasse zu verhindern. Dazu zählt den Personenverkehr nicht zu priorisieren und die geplanten Massnahmen bei den Trassenpreisen und dem Bahnstrom zugunsten des Schienengüterverkehrs umzusetzen.
Aus dem Umfeld der SBB ist zudem zu hören, dass der rentablere Personenverkehr bei der Planung für 2024 deutlich höher gewichtet wird als der Güterverkehr. In Angesicht der vielen anstehenden Bauarbeiten auf der Nord-Süd-Achse eine schwierige Situation für den Schienengüterverkehr. Davon hat die SBB zum Glück abgesehen. Zwar fahren am Wochenende 31 Personenzüge durch den Gotthard-Basistunnel aber unter der Woche stehen die Trassen jedoch weiterhin nur dem Güterverkehr offen.
Wartung auch auf Ausweichstrecken
Mögliche Ersatzstrecken, wie die Gotthard-Bergstrecke, müssen in Stand gehalten werden, um bei Unfällen als Ausweichrouten bereitzustehen. Jedoch können die Ausweichrouten die verlorengegangene Kapazität nur aufnehmen, wenn die Strecken bezüglich der Länge der Züge, ihres Gewichts und der Schienenbreite und Korridore einheitlich sind. Aus diesem Grund müssen die wichtigsten Ausweichrouten am Brenner und Lötschberg dringend so ausgebaut werden, dass der Kapazitätsverlust und die Rückverlagerung auf die Strasse möglichst klein gehalten wird.
Gut gewartete Ausweichstrecken sind auch insofern wichtig, da der Güterverkehr auf der Schiene in den nächsten Jahren weiter zunehmen wird.
Güterverkehrstrassen auf der NEAT sichern
Nach der Fertigstellung des genuesischen Containerschiffhafens rechnet das Bundesamt für Verkehr (BAV) damit, dass der Schienengüterverkehr und allgemein der Güterverkehr nach Nordeuropa verstärkt durch die Schweiz gehen wird. Wenn die Schweiz nicht von Lastwagen überrollt werden will, muss sie dringend handeln und das Schweizer Schienennetz bestmöglich vorbereiten. Heute stehen dem Güterverkehr am Gotthard-Basistunnel 260 Trassen pro Tag zur Verfügung, wovon unter der Woche 100 bis 130 gebraucht werden. Um die zu erwartende Gütermenge aus Süden aufzufangen, ist es wichtig diese 260 und alle weiteren Güterverkehrstrassen auf der NEAT zu sichern. Zusätzlich müssen vor den wichtigsten Basistunnels und Knotenpunkten (z.B. Basel und Arth-Goldau) genügend Abstellplätze vorhanden sein. So können Züge bei Engpässen abgestellt und Zug um Zug nachgezogen werden.
Kontrollen verschärfen und technologische Entwicklung vorantreiben
Kontrollen müssen intensiviert und verbessert werden, um schwerwiegende Unfälle zu verhindern. Die Einführung der digitalen automatischen Kupplung (DAK) ist ein wichtiges Puzzleteil hierfür. Die DAK befindet sich noch in der Testphase und wird voraussichtlich erst 2030 europaweit eingeführt werden können. Die Schweiz muss sich auf nationaler und europäischer Ebene stärker dafür einsetzen, dass die technologischen Entwicklungen im Schienengüterverkehr vorangetrieben werden.
Alternativrouten bereitstellen und grenzüberschreitende Abstimmung
Zudem muss der Vollausbau des Lötschberg-Basistunnel mit aller Vehemenz vorangetrieben werden, denn die Lötschberg-Simplon-Strecke ist neben dem Gotthard-Basistunnel die zweitwichtigste Verbindung nach Italien. Der Lötschberg und der Simplon werden für die Schweizer Verlagerungspolitik künftig eine noch wichtigere Rolle spielen. Die anstehenden Bauarbeiten in der Schweiz und an den Zulaufstrecken müssen gut koordiniert sein. So können Engpässe möglichst geringgehalten und Alternativrouten bereitgestellt werden. Dafür braucht es gute Kommunikation und Abstimmung zwischen Deutschland, der Schweiz und Italien und den Infrastrukturbetreiberinnen damit nicht alle auf eigene Faust bauen. Sonst sind die Zukunftsaussichten für den Schienengüterverkehr sehr düster.
Eine Rückverlagerung auf die Strasse auf Kosten der Lebensqualität an den Verkehrsachsen kommt für die Alpen-Initiative nicht in Frage. Deshalb muss der Bund nun die nötigen Massnahmen treffen, um ein Verkehrsfiasko zu verhindern und den Alpenschutzartikel endlich umzusetzen.