Zusammenfassung
Der Alpenschutzartikel gibt dem Bundesrat die Kompetenz und den klaren Auftrag, die für die Verlagerung nötigen Massnahmen auf dem Verordnungsweg zu treffen. Der Alpenschutzartikel ist damit eine vom Volk bewusst beschlossenen Ausnahme.
In der Botschaft und in der parlamentarischen Beratung der Alpen-Initiative sowie in der Literatur wurde der Verordnungsweg nie angezweifelt.
Auch eine Lenkungsmassnahme wie die Alpentransitbörse ist direkt gestützt auf die Bundesverfassung möglich, selbst dann, wenn sie als Abgabe betrachtet würde, die sie nicht ist. Eine auf Art. 84 BV gestützte Verordnung hat den Rang eines formellen Gesetzes und erfüllt damit alle Anforderungen an das Gesetzmässigkeitsprinzip.
Der Kerngehalt der Wirtschaftsfreiheit wird durch eine Alpentransitbörse nicht tangiert. Die Massnahme ist verhältnismässig und kann diskriminierungsfrei umgesetzt werden.
Da die vom Volk gesetzte Verlagerungsfrist (2004) bereits abgelaufen ist und die vom Parlament gesetzte Frist (2009) ohne zusätzliche Massnahmen ebenfalls ohne Zielerreichung zu verstreichen droht, ist der Bundesrat schon aus Gründen der Dringlichkeit aufgerufen, den Verordnungsweg zu wählen. Wenn er den Gesetzesweg wählt, setzt er sich dem Risiko aus, nach einer allfälligen Ablehnung des Gesetzes in einem Referendum die gleichen Massnahmen doch noch auf dem Verordnungsweg beschliessen zu müssen. Der Bundesrat hat einen Auftrag, nicht nur eine Kompetenz.
Artikel 84 Absatz 2 BV sagt klar, dass der Bundesrat die notwendigen Massnahmen „trifft“ (in der ursprünglichen Version von Art. 36sexies aBV: „regelt“). Der Bundesrat hat also nicht nur eine Kompetenz (es steht nicht „kann treffen“), sondern einen Auftrag, Massnahmen zu treffen (vgl. Komm. Thürer, Aubert, J.P. Müller, 70, S. 1110, II C; auch Auer, Malinverni, Hottelier: Droit constitutionnel suisse, Vol. I, Les ordonnances du Conseil Fédéral, Kapitel 4, Randbemerkung 1488, Seite 519 ff.)
Eine Kompetenz im öffentlichen Recht ist immer zugleich Recht und Pflicht zur Ausübung. Auch eine Kann-Vorschrift ist unter Umständen verpflichtend, wenn alle Voraussetzungen für die Ausübung eintreten. Der Alpenschutzartikel verlangt explizit für die Ausnahmen den Gesetzesweg. Auch daraus lässt sich im Umkehrschluss ableiten, dass für den Regelfall der Verordnungsweg gilt.
Art. 7 Abs. 3 des Verkehrsverlagerungsgesetzes verlangt, dass der Bundesrat dem Parlament spätestens 2006 ein Ausführungsgesetz zum Alpenschutzartikel vorlegt. Diese Bestimmung kann nicht als Auftrag verstanden werden, den Auftrag der Verfassung an den Bundesrat zur Regelung der Massnahmen zu unterlaufen. Sie ist vielmehr als Auftrag zu verstehen, ein Gesetz im Sinne von Art. 84 BV zu unterbreiten, also eines, das primär die Ausnahmen bestimmt.
Der Bundesrat setzt Recht auf dem Verordnungsweg
Der ursprüngliche Artikel 36sexies aBV hat konkretisiert, dass die Massnahmen „auf dem Verordnungsweg“ zu regeln seien. In der neuen Verfassung von Art. 84 BV fehlt diese Ergänzung. Artikel 182 Absatz 1 hält aber generell fest, dass der Bundesrat rechtsetzende Bestimmungen „in der Form einer Verordnung“ erlässt.
Legalitätsprinzip steht nicht über dem Alpenschutz-Artikel
Nach Artikel 36 Absatz 1 der neuen BV bedürfen Einschränkungen von Grundrechten einer gesetzlichen Grundlage. Artikel 182 Absatz 1 BV bestätigt aber entgegen diesem Grundsatz die selbständige Rechtsetzungskompetenz des Bundesrates „soweit er durch Verfassung oder Gesetz dazu ermächtigt ist“. Es gibt keinen Hinweis darauf, warum das Legalitätsprinzip von Art. 36 höher stehen soll als der Auftrag von Art. 84 BV. Sonst hätte der Satz „Der Bundesrat trifft die notwendigen Massnahmen“ in Art. 84 BV keinen Sinn mehr. „Geraten einzelne Verfassungsbestimmungen in ein Spannungsverhältnis zueinander, so darf keine Bestimmung völlig vernachlässigt werden.“ (Richli, Paul: Rechtsgutachten zur Verfassungsmässigkeit von Strassenbenutzungsabgaben zur Verlagerung des Schwerverkehrs, erstattet im Auftrag des Dienstes für Gesamtverkehrsfragen des Eidg. Verkehrs- und Energiewirtschaftsdepartementes, 1994)
Auch Artikel 5 BV (Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns) geht Art. 84 BV nicht vor. Art. 84 BV ist vielmehr als lex specialis zu betrachten, welche die generelle Norm derogiert. Die Verfassung kann sagen, was sie in einem spezifischen Fall als genügende Rechtsgrundlage gelten lassen will. Die Verordnungskompetenz des Bundesrates in Art. 184 (Beziehungen zum Ausland) und Art. 185 (Äussere und innere Sicherheit) sind mit dem Alpenschutzartikel nicht vergleichbar. Hier wird eine Kompetenz („kann“) statuiert, die vom Bundesrat nur unter ausserordentlichen Bedingungen und nur zeitlich befristet wahrgenommen werden kann bzw. muss.
Der Verordnungsweg wurde nie angezweifelt
In der Botschaft zur Alpen-Initiative vom 12.2.92 zieht der Bundesrat den Verordnungsweg nicht grundsätzlich in Zweifel. Er bezeichnet es nur als „rechtssetzungspolitisch … inopportun“, dass die Massnahmen auf dem Verordnungsweg, die Ausnahmen aber auf dem Gesetzesweg beschlossen werden sollen. (Seite 24) Im Parlament war der Verordnungsweg während der Debatte über die Alpen-Initiative kein Thema. Nur im Votum von Herrn Binder, wird er als die „zweite Sache“ bezeichnet, ohne dass eine Erläuterung dazu folgt. Einziger Einwand: „Wir müssten die Verfassung ändern, eine Verordnung und erst noch ein Gesetz schaffen.“ (Amtliches Bulletin der Bundesversammlung, 1992, Seite 2617) Auch der abgelehnte Antrag Danioth im Ständerat enthielt unwidersprochen den Verordnungsweg entsprechend der Formulierung der Alpen-Initiative (Amtliches Bulletin der Bundesversammlung, 92.016, 1993, Seite 532). Der ebenfalls verworfene Antrag Schüle erwähnte den Verordnungsweg nicht explizit, verwies aber die Massnahmen implizit auf diesen, indem er für die Ausnahmen ausdrücklich den Gesetzesweg erwähnte (Amtliches Bulletin der Bundesversammlung, 1993, Seite 532).
Hätten Bundesrat und Parlament an der Rechtmässigkeit des Verordnungsweges Zweifel gehabt, so hätten sie die Alpen-Initiative für ungültig erklären müssen. Sie haben den Alpenschutzartikel aber auch bei der Totalrevision der Bundesverfassung im Jahr 1998 unverändert übernommen. Kommissionssprecher Aeby: „C’est en fait le texte de l’initiative des Alpes de fraîche date qui se retrouve ici. Il n’y a pas un mot à ajouter ou à retrancher, c’est repris tel quel dans la nouvelle constitution.“ (Amtliches Bulletin der Bundesversammlung, 1998, Seite 81) Martin Lendi äussert in seinem Kommentar zum Alpenschutzartikel keinen Zweifel am Verordnungsweg: „Der BR ist von Verfassung wegen ermächtigt, Massnahmen zu treffen, d.h. er kann unmittelbar gestützt auf die Verfassung Verordnungen erlassen und Verfügungen setzen. Auf der andern Seite sind Ausnahmeregelungen auf den Weg der formellen Gesetzgebung verwiesen.“(Ehrenzeller, Mastronardi, Schweizer, Vallender: Die Schweizerische Bundesverfassung, 2002, Seite 948)
Auch Lenkungsabgaben sind auf dem Verordnungsweg möglich
Paul Richli hält in seinem Gutachten fest, dass die verfassungsrechtliche Kompetenzordnung mit Bezug auf die Rechtsetzung auch für die Einführung von Lenkungsabgaben gelte: „Es sind keine Gründe ersichtlich, weshalb der Bundesrat nicht auch Lenkungsabgaben sollte einführen dürfen, wenn er tendenziell schärfere Massnahmen wie das Gebot des vollständigen Verlagerns des fraglichen Schwerverkehrs auf die Schiene anordnen bzw. konkretisieren darf.“ (Richli, a.a.O., Seite 26) Richli schliesst zwar den Gesetzesweg „nicht kategorisch aus“: „Sollte eine Verlagerungslösung derweise aber nicht zeitgerecht zustande kommen, was zumal im Falle eines erfolgreichen Referendums möglich wäre, so wäre der Bundesrat zum Erlass von Verordnungsrecht aufgerufen.“ Er warnt aber ausdrücklich vor dem Gesetzesweg: “Dies könnte ihn (den Bundesrat) in eine heikle politische Lage bringen, falls eine ähnliche Lösung vorher in einem Referendum verworfen worden sein sollte. Man wird sich also reiflich überlegen müssen, ob es angezeigt sei, entgegen der (systemwidrigen) Anordnung in Artikel 36sexies Absatz 2 BV den Gesetzgeber zu bemühen.“
Die Alpentransitbörse kann auf dem Verordnungsweg eingeführt werden
Selbst wenn der Bundesrat entgegen der Meinung von Prof. Richli zur Ansicht gelangen sollte, dass eine Abgabe auf dem Verordnungsweg nicht eingeführt werden könne, hat er die Kompetenz, die Alpentransitbörse als Umsetzungsmassnahme zu beschliessen. Denn diese stellt im juristischen Sinne keine Abgabe dar. Zudem ist zu bedenken: Eine Verlagerungsverordnung, die sich auf BV Art. 84 Abs. 2 Satz 2 stützt, ist nicht eine Vollzugsverordnung, sondern eine gesetzesvertretende Verordnung. Das heisst, dass sie Primärnormen enthalten darf genau wie ein Gesetz. Sie hat den Rang eines formellen Gesetzes und erfüllt damit alle Anforderungen an das Gesetzmässigkeitsprinzip.
Der Kerngehalt der Wirtschaftsfreiheit wird durch die Alpentransitbörse nicht tangiert
Die Beschränkung des Strassentransports durch den Alpenschutzartikel ist zwar eine Einschränkung der Wirtschaftsfreiheit. Sie ist aber von der Bundesverfassung vorgesehen und kann diskriminierungsfrei vorgenommen werden. Die Einschränkung liegt im öffentlichen Interesse, ist verhältnismässig und kein schwerwiegender Eingriff. Deshalb wird der Kerngehalt der Wirtschaftsfreiheit nicht beeinträchtigt.
Die gesetzte Frist verlangt nach dem schnelleren Verordnungsweg
Das Initiativkomitee der Alpen-Initiative hat bewusst dem Bundesrat einen klaren Handlungsauftrag erteilen wollen, um den Willen des Volkes direkt und ohne eine absehbare Verwässerung oder Verzögerung durch das Parlament umzusetzen. Die bisherige Entwicklung bei der Umsetzung des Alpenschutzartikels sowie der Vorentwurf des Güterverkehrsgesetzes zeigen, dass diese Überlegungen richtig waren. Der Bundesrat hat in der Botschaft zur Alpen-Initiative den Willen der Initianten (der nun zum Volkswillen geworden ist) richtig erkannt: „Offenbar soll damit (mit dem Verordnungsweg) ermöglicht werden, die notwendigen Massnahmen unverzüglich in die Tat umzusetzen.“ Entsprechend gehandelt hat er nicht. Er liess die Frist von 2004 verstreichen, und die neue, vom Parlament als flankierende Massnahme zum Landverkehrsabkommen gesetzte Frist von 2009 droht ebenfalls vorbeizugehen, ohne dass das Ziel erreicht wird. Schärfere Massnahmen sind also dringend. Die Dringlichkeit verlangt erst recht nach dem Verordnungsweg. Auch nach Artikel 1 Absatz 3 des Verkehrsverlagerungsgesetzes hätte der Bundesrat schon längst handeln müssen. Denn das Gesetz verlangt, dass der Bundesrat Zwischenschritte festlegt und die notwendigen Massnahmen trifft oder beantragt, falls das Verlagerungsziel gefährdet erscheint. Spätestens bei der Behandlung des ersten Verlagerungsberichtes hätte er deshalb handeln müssen. Denn in diesem ist klar festgehalten, dass das Zwischenziel Stabilisierung nur infolge des LKW-Brandes im Gotthardtunnel erreicht werden konnte (Kapitel 731.1) Alpen-Initiative, Altdorf, 27.10.05
Anhang: GESETZLICHE GRUNDLAGEN BUNDESVERFASSSUNG (Fassung 1998)
Art. 84 Alpenquerender Transitverkehr
1 Der Bund schützt das Alpengebiet vor den negativen Auswirkungen des Transitverkehrs. Er begrenzt die Belastungen durch den Transitverkehr auf ein Mass, das für Menschen, Tiere und Pflanzen sowie ihre Lebensräume nicht schädlich ist.
2 Der alpenquerende Gütertransitverkehr von Grenze zu Grenze erfolgt auf der Schiene. Der Bundesrat trifft die notwendigen Massnahmen. Ausnahmen sind nur zulässig, wenn sie unumgänglich sind. Sie müssen durch ein Gesetz näher bestimmt werden.
3 Die Transitstrassen-Kapazität im Alpengebiet darf nicht erhöht werden. Von dieser Beschränkung ausgenommen sind Umfahrungsstrassen, die Ortschaften vom Durchgangsverkehr entlasten.
Art. 196 Übergangsbestimmungen
1. Übergangsbestimmung zu Art. 84 (Alpenquerender Transitverkehr) Die Verlagerung des Gütertransitverkehrs auf die Schiene muss zehn Jahre nach der Annahme der Volksinitiative zum Schutz des Alpengebietes vor dem Transitverkehr abgeschlossen sein.
Art. 182 Rechtsetzung und Vollzug
1 Der Bundesrat erlässt rechtsetzende Bestimmungen in der Form der Verordnung, soweit er durch Verfassung oder Gesetz dazu ermächtigt ist.
VERKEHRSVERLAGERUNGSGESETZ vom 8. Oktober 1999 Art. 1
Ziel
3 Falls das Verlagerungsziel nach den Absätzen 1 und 2 gefährdet erscheint, legt der Bundesrat Zwischenschritte für die Verlagerung fest und trifft die notwendigen Massnahmen oder beantragt diese der Bundesversammlung. Er schlägt nötigenfalls weitere Massnahmen im Rahmen der Botschaft für ein Ausführungsgesetz zu Artikel 84 der Bundesverfassung vor.
Art. 7 Referendum, Inkrafttreten und Geltungsdauer
… 3 Dieses Gesetz gilt bis zum Inkrafttreten eines Ausführungsgesetzes zu Artikel 84 der Bundesverfassung, längstens jedoch bis zum 31. Dezember 2010. Der Bundesrat unterbreitet der Bundesversammlung spätestens im Jahre 2006 eine Botschaft für ein Ausführungsgesetz zu Artikel 84 der Bundesverfassung.