27. November 2006

Zwischen 1949 und 1982 fand gar nie eine eidgenössische Volksinitiative die Zustimmung der Mehrheit der Stimmenden und der Kantone. Dies liess damals gar manche trotz der indirekten Wirkungen von Volksinitiativen an deren Sinn und Zweck zweifeln.

Seit 1982 haben 8 Volksinitiativen bei den Stimmenden und den Kantonen eine Mehrheit gefunden. Die Zustimmung zur Alpeninitiative ‚zum Schutze des Alpengebietes vor dem Transitverkehr‘ im Frühjahr 1994 war unter allen acht siegreichen Volksinitiativen der letzten 25 Jahre wahrscheinlich die grösste politische Überraschung. Gleichzeitig erwies sich dieser Volksentscheid aber auch als besonders weitsichtig, zukunftsträchtig und für ganz Europa umweltpolitisch als wegweisend. Seither hat die Mehrheit der Stimmberechtigten ebenso wie das Parlament in verschiedenen verkehrspolitischen und umweltpolitischen Abstimmungen den damaligen Entscheid direkt und indirekt bekräftigt. Erweckt der Bundesrat nun auch nur den geringsten Zweifel an seiner entschiedenen Bereitschaft, den 1994 durch Volk und Stände beschlossenen Verfassungsartikel zum Schutz der Alpen und zur Verlagerung des alpenquerenden Verkehrs auf die Schiene zu erfüllen und ihn als Auftrag zu verstehen, so untergräbt er auch die hohe Legitimität der Direkten Demokratie und würde viele Bürgerinnen und Bürger ver-anlassen auch noch an deren Gültigkeit zu zweifeln. Bei allem, was er tut, muss sich der Bundesrat dieser Verantwortung bewusst sein. Die Schweizerinnen und Schweizer sind die einzigen in Europa, die auf die Frage, weshalb sie stolz sind auf ihr Land, in ihrer Antwort auf das politische System verweisen und die Möglichkeiten, die ihnen dieses bezüglich Mitwirkung und Mitgestaltung des Gemeinwesens bietet. Kann nicht mehr länger als selbstver-ständlich gelten, dass Regierung und Parlament alles tun, um der Verfassung und vor allem den immer noch relativ seltenen, ganz, das heisst von Volk und Ständen angenommenen Volksinitiativen nachzuleben , dann würde das bis heute geltende allgemeine Vertrauen in unsere Direkte Demokratie ganz wesentlich erschüttert. Bis heute war dies so gross, dass auf Bundesebene eine direkte Verfassungsgerichts-barkeit mehrheitlich als unnötig erachtet worden ist. Doch auch dies kann sich ändern. Der Bundesrat hat auch deswegen eine ganz besondere Verantwortung, als der 1994 angenommene Verfassungsartikel ihm in den Übergangsbestimmungen die Kompetenz übertrug, bei Bedarf auch auf dem Verordnungsweg die notwendigen zielführenden, das heisst verkehrsverlagernden Massnahmen durchsetzen zu dürfen. Dies war und ist ausserordentlich. Der Bundesrat hat die Stimmberechtigten im Abstimmungsbüchlein ausdrücklich auf diese seine mögliche Kompetenz aufmerksam gemacht. So beschrieb er auch in der Botschaft zur Alpen-Initiative den Willen der Initianten, der dann zum Volkswillen geworden ist, richtigerweise: „Offenbar soll damit (mit dem Verordnungsweg) ermöglicht werden, die notwendigen Massnahmen unverzüglich in die Tat umzusetzen.“ Doch gehandelt hat der Bundesrat nicht entsprechend dieser Worte und Ankündigungen. Er liess die Frist von 2004 verstreichen, und die neue, vom Parlament als flankierende Massnahme zum Landverkehrsabkommen gesetzte Frist von 2009 droht ebenfalls vorbeizugehen, ohne dass das Ziel erreicht wird. Ebenso läuft jetzt die im Verkehrsverlagerungsgesetz von 1999 gesetzte Frist von Ende 2006 aus . Schärfere Massnahmen sind also dringend. Dies wird auch durch andere bundesrätliche Absichtserklärungen im Zusammenhang mit dem Klimaschutz und der Reduktion der Schadstoffbelastung unterstrichen. Die Dringlichkeit der zu ergreifenden verkehrsverlagernden Massnahmen kann folglich formell wie inhaltlich nicht bestritten werden. Umso mehr bietet sich der seit 1994 in der Verfassung vorgesehene Verordnungsweg zu deren Realisierung an. Sollte der Bundesrat Zweifel haben am Ergreifen dieses ihm von der Verfassung geebneten Weges, dann muss er sich vor dem Parlament sehr eingehend erklären und eventuell eines besseren belehren lassen. Alles andere würde das Vertrauen in die Direkte Demokratie nachhaltig erschüttern. Dies können wir uns aber angesichts anderer Krisen der Demokratie nicht auch noch leisten. Deshalb lässt sich mit Fug und Recht behaupten: Tut der Bundesrat das, was die Verfassung ihm zum Schutz der Alpen ermöglicht, so erweist er auch der Direkten Demokratie den besten Dienst. Lebt er dem Willen der Schweizer Stimmberechtigten zum Schutz der Alpen weniger entschieden nach, dann untergräbt der Bundesrat auch das allgemeine Vertrauen der meisten Stimmberechtigten in den Sinn und den Respekt gegenüber der Direkten Demokratie. St.Ursanne, 24.11. 2006