Zwei Tessiner Politiker streiten über die zweite Röhre am Gotthard: Dick Marty, FDP-Ständerat, und Fabio Pedrina, SP-Nationalrat und Präsident der Alpen-Initiative. Einig sind sie sich die beiden, dass man den Schwerverkehr begrenzen muss.
Die Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger haben mehrmals eine zweite Röhre am Gotthard zurückgewiesen. Warum sollte man weiter darüber diskutieren?
Dick Marty: Das Volk hat nie ausschliesslich zur zweiten Röhre Stellung bezogen. Abgestimmt wurde immer über Projekte, die mehrere Bauvorhaben umfassten. Dass man einmal «Nein» gesagt hat, bedingt nicht, dass man Jahre später, wenn andere Projekte vorliegen, die Meinung nicht ändern könnte. Zudem gilt es heute einen neuen Aspekt zu berücksichtigen: der Tunnel muss wegen wichtiger Unterhaltsarbeiten während längerer Zeit gesperrt werden.
Fabio Pedrina: Ich habe mich nie gegen eine Abstimmung zur zweiten Röhre gewehrt. Jetzt aber sollte eine Abstimmung nach der Inbetriebnahme der NEAT erfolgen, da letztere das Transportsystem ins Tessin völlig neu gestalten wird. Die Befürworter der zweiten Röhre drücken sich indessen mit Winkelzügen um eine Volksabstimmung. Im Übrigen kann der Gotthard nicht losgelöst von der gesamten Verkehrspolitik betrachtet werden.
Welches ist die beste Lösung während der Sanierung des Tunnels?
Fabio Pedrina: Die Sanierung des Strassentunnels kann und muss nach Inbetriebnahme der NEAT ausgeführt werden. Der auf der Strasse verbleibende Schwerverkehr kann zwischen Airolo und Göschenen mit der Bahn befördert werden, für den PKW-Verkehr muss ein Autozug zwischen Erstfeld und Biasca verkehren, oder man verteilt den LKW- und den PKW-Verkehr umgekehrt auf die Tunnels.
Dick Marty: Ich fordere jedes Genie heraus zu beweisen, dass der heutige Strassen- und Bahnverkehr künftig allein auf die Schiene konzentriert werden kann! Die Bahn wird zudem viel attraktiver, wobei automatisch auch deren Benützung bedeutend zunehmen wird, wie übrigens der Lötschberg-Basistunnel belegt.
Fabio Pedrina: Ich muss Dick Marty widersprechen. Die von uns schon vor einigen Jahren in Auftrag gegebenen technischen Abklärungen beweisen, dass die Kapazität ausreichen wird, wenn man die geringere Auslastungsperiode im verkehrsärmeren Winterhalbjahr berücksichtigt und den Autotransport auf Basis- und Scheiteltunnel der Bahn verteilt. Eine zweite Röhre ist deshalb nicht nötig, um diese Übergangsphase zu bewältigen. Die Sanierung darf nicht missbraucht werden, um etwas durchzusetzen, das sonst nicht machbar wäre.
Dick Marty: Nachdem ich zahlreiche Experten angehört habe, bestreite ich vehement die Möglichkeit, den gesamten Verkehr durch den Gotthard mit der Bahn zu bewältigen. Wie alle Erfahrungen beweisen, ist die Bahn nicht imstande, einen Grossteil des Strassenverkehrs aufzunehmen.
Kann eine zweite Röhre ohne Kapazitätserhöhung realisiert werden?
Dick Marty: Damit Klarheit besteht: Ich befürworte eine zweite Röhre nur ohne Kapazitätserhöhung. Man baut zwei Röhren und in jeder Röhre rollt der Verkehr auf einer Fahrspur in eine Richtung. Die zweite Fahrspur dient als Sicherheitsstreifen. So haben wir die gleiche Kapazität wie bisher. Nur in Ausnahmefällen, wie der Sperrung eines Tunnels, könnte die eine Röhre für den Gegenverkehr geöffnet werden.
Fabio Pedrina: Hier liegt der Hase im Pfeffer. Ich bin zu 100 Prozent sicher, dass eine zweite Röhre zwangsläufig zu einer Kapazitätssteigerung führen wird. Dick Marty hat richtigerweise gesagt, dass man mit der zweiten Röhre den Gotthard-Tunnel potenziell als vierspurige Autobahn betreiben kann. Das ist dann nur noch ein Kinderspiel! Man wird sagen: «Nun haben wir die zweite Röhre gebaut, jetzt sollten wir sie auch nützen.» Eine zweite Röhre am Gotthard ohne Kapazitätserhöhung könnt ihr wohl versprechen, aber in Tat und Wahrheit würde doch ein vierspuriger Durchstich daraus. Man will einmal mehr das Volk an der Nase herumführen!
Dick Marty: Das ist eine Unterstellung. Soweit wir wissen, werden in der Schweiz die Gesetze eingehalten und die Verfassung respektiert.
In den letzten Jahren wurden zahlreiche Massnahmen ergriffen, um die Sicherheit in den Schweizer Tunnels zu erhöhen. Auch der Gotthard-Tunnel wurde verbessert. Genügt das nicht?
Dick Marty: Auch wenn man alle möglichen Massnahmen ergreift, bleibt dieser 17 Kilometer lange Tunnel ohne Trennung der Verkehrsströme und ohne jeglichen Sicherheitsstreifen unbestreitbar gefährlich. Ich befürchte – leider habe ich diesen Satz schon einmal im Ständerat gesagt und wenig später ereignete sich die Tragödie des Jahres 2001, weshalb ich ihn ungern wiederhole – dass es wohl eine weitere Tragödie braucht, bevor uns die Augen aufgehen. Mit zwei Röhren gäbe es keinen Gegenverkehr, womit die Gefahr eines Frontalzusammenstosses um 100% reduziert würde.
Fabio Pedrina: Ich befürchte leider, dass es eine weitere Katastrophe braucht, bevor wir in einem anderen zentralen Bereich wirklich die Augen öffnen: beim Schwerverkehr! Hier denken Dick Marty und ich wohl ziemlich gleich. Auch er hat für eine drastische Reduktion des Schwerverkehrs am Gotthard gekämpft. Um die Sicherheit zu erhöhen, müssen wir die Verkehrsverlagerungs-Massnahmen viel entschiedener vorantreiben. Nehmen wir eine weitere Verkehrszunahme hin – und dies ist der Endeffekt des flüssigeren Verkehrs, wie ihn Marty mit der zweiten Röhre vorschlägt – werden wir auch ausserhalb der Tunnelstrecke negative Folgen für die Verkehrssicherheit und die Gesundheit der Bevölkerung haben. Geht man von der Sicherheit aus, so wäre die Umwandlung des bestehenden Strassentunnels in einen Bahnshuttle, wie jener unter dem Ärmelkanal, wohl die sicherste Lösung, die im Übrigen eine ähnliche Kapazität und weit tiefere Kosten aufweisen würde.
Dick Marty: Ein Bahnshuttle würde unendliche Staus bei den Verladestationen erzeugen, wobei äusserst schädliche Emissionen sowohl in Göschenen wie in der oberen Leventina freigesetzt würden. Ich bin einverstanden, dass man den Schwerverkehr begrenzen muss sowie nach Möglichkeit auch den privaten Strassenverkehr, jedoch nicht durch einen Engpass am Gotthard. Es gibt auch vollkommen absurde Verhaltensweisen, die es zu bekämpfen gilt. Im Gotthardtunnel kreuzen sich Lastwagen, die Mineralwasser transportieren, weil man südlich der Alpen Wasser aus dem Norden trinkt und nördlich der Alpen mit Vorliebe zu San Pellegrino greift, das auf der Südseite abgefüllt wird.
Wie viel würde die zweite Röhre am Gotthard kosten und wie steht es mit der Finanzierung?
Dick Marty: Nach den Schätzungen von Ingenieur Lombardi würde die zweite Röhre 900 Millionen kosten. Die Automobilisten zahlen bereits heute für die Strassenbauprojekte, und diese Gelder fliessen reichlich in den entsprechenden Fonds. Ich habe nichts dagegen, wenn der Zuschlag zu den Treibstoffabgaben erhöht werden muss. Man könnte sogar die Verkehrssteuern und – vielleicht wenigstens teilweise – die Versicherungsprämien abschaffen und sie auf den Benzinpreis aufschlagen, so dass der Preis fürs Autofahren nur bei Gebrauch des Fahrzeugs zu Buche schlägt. Ein solches System würde auch dazu beitragen, den Gebrauch privater Fahrzeuge zu reduzieren. Zudem würden die Ausländer für das Benzin in der Schweiz den gleichen Preis wie in ihrer Heimat bezahlen, wodurch auch die Einnahmen steigen würden.
Fabio Pedrina: Schon 2004 ging man von Kosten von über einer Milliarde aus. Ich schätze, es werden eineinhalb bis zwei Milliarden sein. Mit diesen Geldern kann man andere Lösungen finden, die für das Tessin wünschenswertere Auswirkungen haben, sowohl generell in Bezug auf das Transportsystem wie auch durch eine höhere Sicherheit für alle. Ich bin der Meinung, dass die Fertigstellung der NEAT Priorität hat, also die Weiterführung nach Süden ab Biasca. Zudem hat der Kanton Tessin die Sanierung der Autobahn nach den Bedürfnissen des Umweltschutzes, der Lärmbekämpfung und des Landschaftsschutzes noch nicht angemessen umgesetzt. Mit diesen Geldern könnte man das Tessin für die Bevölkerung und die Touristen attraktiver machen und gleichzeitig dank dem Bahnverlad auch noch die Sicherheit bedeutend erhöhen.
Das Gespräch leitete Elena Strozzi