24. September 2015

Carlo Croci ist seit 21 Jahren Stadtpräsident von Mendrisio. Er vertritt die CVP und will keine 2. Strassenröhre am Gotthard. Carlo Croci fürchtet den Mehrverkehr und will dafür sorgen, dass das Tessin nicht von der Landkarte verschwindet.

tob. Herr Croci, Sie leben in Mendrisio und präsidieren die Stadt mit rund 15’000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Wie steht es um die Lebensqualität?
Die Lebensqualität ist gut, keine Frage. Aber die Situation auf unseren Strassen ist sehr schlecht und verschlimmert sich immer weiter. Es ist mittlerweile sogar
so, dass wir uns fast nicht mehr bewegen können. Und das jeden Tag.

Wie meinen Sie das?
Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Vor 30 Jahren arbeitete ich in Lugano. Damals brauchte ich für die Strecke Mendrisio–Lugano 15 Minuten. Auch heute habe ich beruflich oft in Lugano und Umgebung zu tun. Ich bin Treuhänder und besuche viele Kunden. Heute rechne ich morgens um 6 oder 7 Uhr mit einer Stunde Fahrzeit von zu Hause ins Zentrum nach Lugano. So ist das heute auf unseren Strassen! Ich bin auf das Auto angewiesen. Mein Beitrag an den Umweltschutz liegt darin, dass ich seit 20 Jahren mit einem Elektrofahrzeug unterwegs bin.

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Sind Sie zufrieden mit dem Elektroauto?
Oh ja, damit bin ich sehr zufrieden, ich habe bereits das dritte.

Wo liegt das Hauptproblem für die schwierigen Zustände auf den Strassen?
Da sind vor allem die vielen Grenzgängerinnen und Grenzgänger aus Italien, die täglich zu uns kommen. Über 65’000 sind es unterdessen. Aber da ist auch der Touristenverkehr von und nach Italien, das spüren wir insbesondere in den Sommermonaten von Juni bis September.

Sie sind dem bürgerlichen Komitee gegen eine 2. Gotthardröhre beigetreten? Warum das?
Die Schweiz muss wissen, dass im Südtessin ganz viele gegen eine 2. Röhre am Gotthard sind. Zudem kann ich ganz einfach nicht glauben, dass man einen 2. Strassentunnel baut und dann nur jeweils eine Spur benutzt. Das mag ja am Anfang vielleicht so sein. Aber auch eine Bundesverfassung kann man ändern, und dann besonders leicht, wenn der Tunnel schon gebaut und bezahlt ist. Sollten sich die Staus vor dem Gotthard aber zu uns ins Südtessin verschieben, dann geht bei uns auf den Strassen von Juni bis September überhaupt nichts mehr, dann können wir uns definitiv nicht mehr bewegen.

Dann haben Sie noch mehr als eine Stunde von Lugano nach Hause?
Sehen Sie: Wenn heute ein Unfall auf der Autobahn passiert, kann es gut und gerne 2 oder 3 Stunden dauern, bis ich die Strecke zurückgelegt habe. Ich kann auch nicht ausweichen, denn bei einem Unfall ist das gesamte Strassennetz in der Region innert kurzer Zeit verstopft. Und es ist doch so: Je mehr Verkehr es gibt, umso nervöser werden die Leute, und da steigt auch das Risiko für Unfälle.

Wie kommt es bei Ihren Parteikollegen an, dass Sie im bürgerlichen Komitee mitmachen?
Nicht besonders gut. Aber ich kann doch nicht aus parteipolitischen Gründen für eine 2. Röhre sein, wenn ich als Stadtpräsident von Mendrisio sehe, dass viele Leute in der Region dagegen sind und wir noch mehr unter dem Verkehr leiden würden. Das heisst, nicht nur wir in Mendrisio würden mehr leiden, sondern alle Leute im südlichen Tessin. Im Übrigen bin ich ja nicht der einzige Bürgermeister, der so denkt. Auch der Bürgermeister von Chiasso ist in diesem Komitee (siehe Kasten).

Verstehen Sie, weshalb sich die Tessiner Regierung so vehement für die 2. Röhre einsetzt?
Nein, diese Vehemenz verstehe ich nicht. Gerade weil sich die Verkehrsprobleme im Raum Lugano bis an die Grenze zu Italien zusätzlich verschärfen würden. Ich bin auch überzeugt, dass der Verkehr dem Tourismus neue Probleme schaffen würde. In Studien wurde ja nachgewiesen, dass der viele Verkehr ein grosses Handicap für unseren Tourismus ist.

Wie oft fahren Sie pro Jahr durch den Gotthardtunnel?
Vielleicht zehn Mal. Die Strecke Mendrisio – Lugano aber mindestens 100 Mal.

Was halten Sie denn von AlpTransit, der neue Gotthard-Basistunnel wird ja im nächsten Jahr eröffnet?
Ich mache mir Sorgen, denn zwischen Zürich und Mailand wird es kein Tessin mehr geben. Zwischen den beiden Wirtschaftszentren wird die Verbindung viel besser sein, aber ich fürchte, dass das Tessin ein wenig von der Landkarte verschwinden wird.

Wäre das auch der Fall mit der 2. Strassenröhre?
Leider ja, fürchte ich.

Was tun?
Wir müssen auf jeden Fall unsere Stärken ausbauen, so zum Beispiel die Universität. Oder wir müssen dafür sorgen, dass sich internationale Firmen im Bereich Finanzdienstleistungen bei uns ansiedeln, wir haben ja den Vorteil, dass wir verschiedene Sprachen sprechen. Wir müssen zeigen, dass es zwischen den grossen Zentren auch noch die kleinen gibt und das Tessin noch da ist.

Bürgerlicher Widerstand im Tessin

Mit Carlo Croci, CVP Mendrisio, wehren sich auch andere bürgerliche Stadtpräsidenten im Tessin gegen eine 2. Röhre am Gotthard. So etwa der Bürgermeister von Chiasso, Moreno Colombo, FDP. Auch er will keine 2. Röhre. In einer Zeitungskolumne in den «Schaffhauser Nachrichten» schrieb Colombo: «Für das Wohlergehen der Menschen im Mendrisiotto und im Sottoceneri, aber auch für eine florierende Wirtschaft in unserer Region ist es zentral, dass wir weniger Lastwagenverkehr haben. Deshalb sind wir für die Verlagerung. Und deshalb fürchten wir uns vor einer zweiten Strassenröhre am Gotthard. Sie wird mehr Lastwagen anziehen und den Verkehr bei uns kollabieren lassen. Wir hätten nur noch Staus, könnten nicht mehr zirkulieren, und das wäre für die lokale Wirtschaft und die Menschen fatal». Moreno Colombo ist Co-Präsident des nationalen Komitees «Bürgerliche gegen zweite Röhre».

Gegen die 2. Röhre hat sich schon früher ein weiterer Stadtpräsident ausgesprochen, nämlich jener von Bellinzona, Mario Branda, SP. Die einzige vernünftige Lösung bestehe darin, so Branda, bei der Sanierung verschiedene Massnahmen zu verknüpfen: den neuen Bahntunnel am Gotthard benutzen, Verladezüge für Autos und Lastwagen einrichten, längeres Offenhalten der Pässe, Sanierung nur in den Wintermonaten.