Die Chronologie der Alpeninitiative ist bekannt :
1994 Annahme der Volksinitiative durch Volk und Kantone.
1999 Verkehrsverlagerungsgesetz: Festlegung einer Obergrenze von 650’000 Fahrten jährlich. Ausserdem wird die zehnjährige Frist zur Verlagerung auf die Schiene um 5 Jahre verlängert, weil die SBB nicht im Stande sind, das Transportaufkommen früher zu bewältigen (ohne Volksabstimmung und daher mit einem ersten Verstoss gegen die Verfassungsbestimmung).
Um die Verfassungsbestimmung einzuhalten, sollte der Bundesrat Verordnungen erlassen; besonders zur Einführung der Transitbörse, welche die Einhaltung der Begrenzung der Transitfahrten ermöglicht.
Auf Grund gewisser Rechtsauffassungen versucht der Bundesrat, diese Verpflichtung zu umgehen und die Kompetenz ans Parlament abzuschieben, wo die Vertreter der Verkehrslobby bereit stehen, um irgend einen neuen Kompromiss zu schneidern, der das Inkrafttreten des Verfassungstextes bis ins Unendliche hinaus schiebt.
Es stellt sich also die Frage der Kompetenz:
Artikel 84, Abs. 2, zweiter Satz, besagt: „Der Bundesrat trifft die notwendigen Massnahmen“. Der Text wurde von Volk und Kantonen angenommen und vom Parlament abgesegnet, wobei keine Zweifel an seiner Rechtsmässigkeit und Verfassungsvereinbarkeit aufkamen. Der Text wurde dann in die neue Bundesverfassung übernommen, ohne dass die Kommissionen und das Parlament Einwände erhoben hätten.
Mit der Annahme des Verfassungsartikels wollten Volk und Kantone also dem Bundesrat den direkten Auftrag erteilen, die zur Verlagerung nötigen Verordnungen zu erlassen.
Es ist zwar nicht üblich, aber mit der Rechtslehre vereinbar, dem Bundesrat die Zuständigkeit für den Erlass einer unabhängigen Vollzugsverordnung zu geben. (vgl. hierzu Komm. Thürer, Aubert, J.P. Müller, 70, S. 1110, Ziffern 29 bis 34; Auer, Malinverni, Hottelier, I, Ziffern 1499, 1539 und folgende. Im Kommentar führt Auer Art. 84 Abs. 2 der Verfassung als klassisches Beispiel einer unabhängigen Verordnung an.)
Im vorliegenden Fall der Verlagerung des Güterverkehrs von der Strasse auf die Schiene behauptet der Bundesrat, dass zur Begrenzung des Schwerverkehrs auf 650’000 Transitfahrten und zur Verlagerung des Rest auf die Schiene vor Eröffnung der NEAT Massnahmen notwendig sind, die vom Parlament zu beschliessen sind. Dies bedeutet, dass sich der Bundesrat einer Aufgabe entledigt, die eigentlich in seiner Kompetenz steht, und diese ans Parlament abschiebt.
Nach Auer (a. a. O. Ziffer 1540) kann die Verfassungsmässigkeit bei jedem Vollzugsfall überprüft werden (BGE 125 II 298). Niemand hat die Verfassungsmässigkeit einer Verordnung des Bundesrates in Anwendung von Art. 84, Abs. 2, bezweifelt. Sollte der Bundesrat – wie er ja tatsächlich sollte – diese in der Verfassung vorgesehene Befugnis wahrnehmen, und sollte jemand glauben, dass der Bundesrat dabei seine Befugnisse überschritten hat, steht der Beschwerdeweg ans Bundesgericht offen. Das angeführte Urteil listet die Bedingungen auf, die es einzuhalten gilt, damit die Verordnung mit dem Verfassungsauftrag vereinbar ist: Sie muss der Verfassungsbestimmung entspreche, auf die sie sich abstützt, insbesondere bezüglich dem Objekt, dem Zweck und der übertragenen Kompetenz; und sie darf andere Verfassungsbestimmungen, insbesondere die Grundrecht, nicht verletzen; dabei darf die Exekutive den gleichen Spielraum beanspruchen, der dem Gesetzgeber zusteht. Die Aufsichtsbehörde (das Bundesgericht) anderseits darf den Aktionsradius nicht beschränken, den die Verfassung der Exekutive zugestehen wollte.
Bleibt noch das Problem zu wissen, ob die verfassungsmässige Delegierung zwingend ist, oder ob der Bundesrat davon absehen kann, sie anzuwenden. Nach unserer Meinung stellt sie einen Auftrag an die Exekutive dar, da der Text einem klaren und unmissverständlichem Volkswillen entspricht. Falls der Bundesrat sich dieser Verpflichtung entzieht, verletzt er damit – nach unserer Ansicht – schwerwiegend den ihm erteilten Auftrag.
Abschliessend möchte ich einige generelle Gedanken zur Verkehrsproblematik im Alpenraum, insbesondere zum Güterverkehr äussern:
Der Erfolg der Alpeninitiative (die, falls die Abstimmung heute wiederholt würde, noch mehr Zustimmungen erhalten könnte) entspricht einem tiefen Unbehagen der Bevölkerung (und nicht nur der Bevölkerung der Regionen, die direkt vom Verkehr betroffen sind) gegenüber der ständigen Zunahme des Verkehrs und seiner unabdingbaren Auswirkungen auf die Lebensqualität, die Gesundheit und Bewegungsfreiheit der Bürger. Schon früh hatte man erkannt, dass der Schwerverkehr den Privatverkehr von der Autobahn abzudrängen drohte, falls man nicht eingreifen würde. Es geht deshalb nicht nur um eine juristische Angelegenheit, sondern um die Umsetzung des Volkswillens, der bei der Volksabstimmung unmissverständlich zum Ausdruck kam.
Der Bundesrat hat eine Verantwortung, die hier über den Einzelfall hinausreicht: es geht um seine Glaubwürdigkeit. Auf der einen Seite besteht ein klarer Volkswille, auf der anderen Seite finden wir die Anliegen der Strassentransportunternehmungen. Wenn der Bundesrat nicht fähig ist klarzustellen, dass Partikularinteressen nicht die demokratischen Grundsätze verletzen dürfen, auf denen die schweizerische Eidgenossenschaft beruht, so würde er das Fundament unseres Systems in Frage stellen. Der wirtschaftliche Wohlstand hat seine Grenzen dort, wo er die Lebensqualität gefährdet.
Die Transitbörse mit elektronischer Vorbestellung der Durchfahrten ist ein System, dass zwingend zum Einsatz kommen muss, sobald die Nachfrage die zur Verfügung stehende Kapazität übersteigt. Die Kapazität des Tunnels für den Schwerverkehr ist begrenzt und kann nicht ausgeweitet werden. Eine solche Lösung wurde beim Luftverkehr angewandt, ohne dass dies Kritiken hervorgerufen hätte. Da der Flugzeugrumpf nicht mehr Passagiere aufnehmen kann als Plätze zur Verfügung stehen, wird der Platz übers Internet reserviert. Sobald die Plätze ausgebucht sind, werden keine Reservationen mehr entgegen genommen. Warum sollte es denn so schwierig sein, das gleiche System auch beim Alpentransit anzuwenden? Weil die Schwerverkehrs-Lobby die Lastwagenfahrer lieber stundenlang auf der Autobahn warten lässt? Diese Lage ist wirtschaftlich nachteilig und menschlich nicht zu verantworten.
Der Bundesrat hat mit der Annahme der Initiative einen zwingenden Auftrag erhalten. Jetzt muss er den politischen Mut zeigen, die eigene Verantwortung wahrzunehmen und die Vollzugverordnungen vorbereiten.