27. September 2001

Fabio Pedrina, Nationalrat und Präsident der Alpen-Initiative
Fluch oder Segen für die schweizerische Verkehrspolitik?

Entwicklung des Alpenverkehrs seit Schliessung des Mont-Blanc-Tunnels Seit mehr als zwei Jahren ist der Strassentunnel am Mont-Blanc geschlossen. Nach dem Unfall und der Schliessung des Tunnels hat sich viel geändert im alpenquerenden Verkehr – und auch wieder nicht. Viele namhafte französische Politiker haben eine grundlegende Wende der nationalen Verkehrspolitik versprochen. Sichere, umwelt- und sozialverträgliche Transportregimes sollten die Zukunft des Alpenverkehrs bestimmen. Seither donnern tatsächlich keine Transit-Lkw mehr durch das Tal von Chamonix. Die Zahl der alpenquerenden Schwertransporte über die Mont-Blanc-Route ist von 769.000 im Jahr 1998 auf 170.000 im Jahr 1999 und schliesslich auf null im Jahr 2000 gesunken. Die Bevölkerung des Tals freut sich über die wiedergewonnene Ruhe und die bessere Luftqualität, und auch der Tourismus und die Wirtschaft florieren nachgewiesener Massen weiter. Doch was in der Zwischenzeit sonst noch passiert? Die Lkw-Kolonnen, die vormals unter dem Mont-Blanc die Alpen querten, sind nicht von den Strassen verschwunden. Weder wurden die unsinnigen Transporte verringert, noch die Leerfahrten. Die Güter wurden auch nicht mehr als vorher auf die Bahn verladen. In der Schweiz wurden im Anschluss an die Tunnelsperrung keine unerwarteten Steigerungen der Lkw-Zahlen an den potenziellen Ausweichstrecken Grand Saint Bernard und Simplon festgestellt. Aufgrund der seit dem 1. Januar erhöhten Gewichtslimite könnte sich dies im laufenden Jahr allerdings noch ändern. Ganz anders beim etwas südlicher gelegenen Fréjus-Strassentunnel: Dort hat sich die Zahl der LKW-Fahrten von 782.000 im Jahr 1998 auf 1.553.000 im Jahr 2000 verdoppelt. Mit allen zu erwartenden Folgen für die Anwohner und die Umwelt im angrenzenden Maurienne-Tal. Folgen einer dauerhaften Schliessung des Mont-Blanc-Tunnels für die Schwerverkehrsentwicklung in der Schweiz und in den Alpen Die Bedenken, die Schweiz könnte durch eine Lawine von Lkw überrollt werden, welche sich eine neue Route durch die Alpen sucht, hat sich eindeutig nicht bewahrheitet und ist auch bei einer langfristigen Sperrung nicht zu erwarten. Im Gegenteil – die Sperrung des Mont-Blanc-Tunnels stellt eine Chance für die schweizerische Verkehrspolitik dar. Das Thema Alpentransit ist bei den VerkehrsministerInnen der Nachbarländern und bei der EU-Verkehrskommission auf der Tagesordnung. Noch immer hat die schweizerische Verkehrspolitik eine Vorbildrolle inne. Dennoch gerät die Schweiz zunehmend in die Zwickmühle der stetig steigenden Verkehrsströme zwischen den Ländern Nord- und Südeuropas. Eine Ausweitung zukunftsfähiger Verkehrsstrategien, wie die Verlagerung des Güterverkehrs auf die Bahn und die verursachergerechte Anlastung der externen Kosten in Form einer leistungsabhängigen Schwerverkehrsabgabe (LSVA) auf das angrenzende Ausland, erhöht langfristig deren Überlebenschancen und steigert die Effizienz erheblich. Dabei darf das Ziel nicht aus den Augen verloren werden, eine umwelt- und sozialverträgliche Verkehrspolitik für den gesamten Alpenraum anzustreben. Sensible Berg-regionen machen nicht an politischen Grenzen halt. Die schweizerische Verkehrspolitik könnte zum Vorbild für die möglichen Entwicklungen am Mont-Blanc werden. Eine langfristige Schliessung für Lkw käme einer Umsetzung der schweizerischen Konzepte in Frankreich gleich, wenn zusätzlich Massnahmen zur Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene zum Einsatz kommen.Für eine sicherere Verkehrs-Zukunft Der Grund für die Schliessung des Tunnels am Mont-Blanc ist grausam. Anlass genug, in der Verkehrspolitik nicht wie bisher weiter zu fahren. Katastrophen wie am Mont-Blanc müssen zum Überdenken der Ursachen anregen. Dabei genügen nicht kleinere Veränderungen am Lüftungssystem eines Tunnels, auch nicht ein paar zusätzliche Ausweichbuchten oder Vorschriften über Sicherheitsabstände. Letztlich handelt es sich auch beim Ausbau von Tunnels auf zwei separate Röhren nur um teure Luxus-Kosmetik. Die Ursache der Gefahren wird bei all diesen Massnahmen nicht berücksichtigt: die ständig steigende Menge an Kraftfahrzeugen in den Tunnels und auf den Strassen und die grosse Anzahl potentieller Gefahrguttransporte und deren ungenügende Kontrolle. Der Sicherheitsstandard im Mont-Blanc-Tunnel wird auch nach Beendigung der Wiederinstandstellungsarbeiten das Niveau des Gotthardtunnels nicht erreichen. Es besteht dort nach wie vor kein durchgehender Rettungsstollen. Mit Rettungsräumen alle 300 Meter, Feuerwehrbuchten alle 150 Meter, Ausweichbuchten alle 100 Meter, einer zentralen und dauernd besetzten Rettungsstation in der Mitte des Tunnels und einer verbesserten Entlüftung wird jetzt Werbung für die Wiedereröffnung des Tunnels gemacht. Aber wer sich in Zukunft im Tunnel sicher fühlt, hält sich an einem sehr dünnen Grashalm fest. Das Risiko von Katastrophen wie der von 1999 wird nur dann deutlich zu senken sein, wenn die Anzahl und die Grösse der Fahrzeuge im Tunnel abnimmt – das gilt für den Mont-Blanc gleichermassen wie für den Gotthard. An beiden Tunnels wurde von hochrangigen Politikern proklamiert, dass die Röhren nicht oder nicht mehr in erster Linie für den Schwerverkehr dienen sollen: am Gotthard an der Eröffnungsfeier des Tunnels im September 1980 von Bundesrat Hans Hürlimann, am Mont-Blanc vom französischen Verkehrsminister Gayssot nach dem Unfall im März 1999. Nur eine konsequente Umsetzung der Verkehrsvermeidungs- und Verlagerungsziele sowie neue Sicherheitsstandards bei Gefahrguttransporten werden langfristig das Risiko weiterer Tunneltragödien minimieren.