Während zwei Jahren hat Bundesrätin Simonetta Sommaruga die Alpenkonvention präsidiert. Wir haben sie zum Gespräch getroffen – und es gab einiges Lob für die Alpen-Initiative. Das Interview mit Bundesrätin Sommaruga wurde geführt, bevor sie ihren Rücktritt per Ende 2022 bekannt gab.
Django Betschart: Sie regieren unser Alpenland Schweiz mit und präsidieren bis Ende 2022 die Alpenkonvention, unter welcher sich die Alpenstaaten zusammenschliessen. Was bedeuten die Alpen für Sie als Mensch ?
Bundesrätin Sommaruga: Ich bin gerne draussen in der Natur. In den Ferien wandere ich am liebsten. Vor kurzem war ich auf der Riederalp. Ich bin immer wieder sehr beindruckt und besorgt, wenn ich sehe, wie der Permafrost schmilzt. Was das bedeutet, hat man beispielsweise bei der Bahn auf den Titlis gesehen: aufgrund des auftauenden Permafrosts mussten Pfeiler verstärkt werden. Solche Investitionen müssen wir künftig immer häufiger tätigen. Wenn man heute in den Alpen unterwegs ist, sieht man die Folgen des Klimawandels deutlich. Insbesondere auch bei den Gletschern, die sich zurückziehen. Diese Entwicklungen sind augenfällig, wenn man in den Bergen ist.
Seit Jahrzehnten nimmt der Verkehr ungebremst zu, während unsere Infrastruktur an ihre Grenzen stösst. Was sind Ihre Rezepte für eine Verkehrswende, die ihrem Namen gerecht wird?
Schon kurz nach dem Wechsel in das UVEK 2019 habe ich ein Verlagerungspaket lanciert. Für mich war klar: Wir müssen mehr Güter auf die Schiene bringen. Wir haben dann die Trassenpreise gesenkt und die LSVA für schmutzige Lastwagen erhöht. Alles, um die Bahn noch attraktiver zu machen. Wir müssen die LSVA so weitergestalten, dass sie auch in Zukunft dafür sorgt, dass der Gütertransport auf die Schiene verlagert und dass er klimafreundlicher wird.
Der Güterverkehr auf der Strasse wird heute noch fast ausschliesslich fossil angetrieben. Die Alpen-Initiative hat einen Plan, ihn bis 2035 klimaneutral zu machen. Wie stehen Sie zu unserem Plan?
Wir haben das gleiche Ziel: der Strassengüterverkehr muss klimafreundlicher werden. Die Technologien dafür sind vorhanden. Heute ist es in erster Linie eine Kostenfrage. Der Bundesrat hat darum beschlossen, dass E-Lkw oder mit Wasserstoff angetriebene Lastwagen bis 2030 von der LSVA befreit bleiben sollen. Das braucht es für die Investitionssicherheit, damit die Transporteure umsteigen, weil die moderneren, klimafreundlichen Lastwagen derzeit noch teurer sind als andere. Zudem wollen wir die Ladeinfrastruktur verbessern, hierfür sind im CO2-Gesetz Mittel vorgesehen. Wir haben bei der Verlagerung sowohl im alpenquerenden Güterverkehr als auch im Inland noch Potenzial. Das müssen wir nutzen.
Auf welchen Zeitpunkt peilen denn Sie den klimaneutralen Verkehr in und durch die Alpen an?
Wir wollen dies bis 2050 erreichen. Die Alpen-Initiative will den Güterverkehr bis 2035 klimaneutral machen. Wir unterscheiden uns also beim Tempo, haben aber das gleiche Ziel. Entscheidend ist, dass wir mit konkreten Massnahmen vorwärts machen und die Bevölkerung und Wirtschaft dabei unterstützen. Das machen wir mit dem CO2-Gesetz.
Welche Bilanz ziehen Sie zu Ihrer Präsidentschaft der Alpenkonvention im Jahr 2022 und welche handfesten Massnahmen schauen dabei für die weiterhin verkehrsgeplagte Schweizer Bevölkerung heraus?
Ich schaue sehr positiv darauf zurück. Auf meine Initiative hin haben neu sowohl die Umwelt- als auch die Verkehrsministerinnen und -minister der Alpenländer zusammen im Laufe dieses Jahres einen Aktionsplan für eine klimafreundliche Mobilität erarbeitet. Dieser wurde Ende Oktober in Brig verabschiedet, man spricht darum von der «Simplon»-Allianz». Verkehr und Umwelt müssen zusammen gedacht werden, das ist aus meiner Sicht sehr wichtig. Das war neu, kam sehr gut an und ist exemplarisch dafür, wie wir die Verkehrspolitik in den Alpen gestalten sollten. Die Bevölkerung in den Alpen bekommt die negativen Auswirkungen des Verkehrs, wie Lärmbelastung oder Luftverschmutzung, sowie die Klimaerwärmung besonders zu spüren.
Wie sorgen Sie dafür, dass die Simplon-Allianz nicht zu einem Papiertiger verkommt?
Die Massnahmen sind sehr konkret und man kann sie sehr gut überprüfen. So wollen wir zum Beispiel ein alpenweites Abo für den öffentlichen Verkehr einführen. Auch um ein Bewusstsein zu schaffen, dass es eine zusammengehörige Region ist, welche das gleiche Schicksal und über die Landesgrenzen hinaus die gleichen Ziele teilt. Die Elektrifizierung der Busflotten in den Bergen, die sehr wichtig ist, wollen wir auch angehen. Ebenso bessere Bahnverbindungen. Wir haben von Anfang an gesagt, dass wir uns auch auf junge Menschen konzentrieren und gute Angebote für sie machen wollen. Jetzt müssen die einzelnen Regionen dranbleiben. Von solchen Massnahmen profitieren die Alpen, der Klimaschutz und die Bevölkerung.
Zur Dekarbonisierung des Strassengüterverkehrs: Es ist in der Botschaft zum CO2-Gesetz vorgesehen, Wasserstoff- und Elektro-Lastwagen bis 2030 total von der LSVA zu befreien. Die EU sieht bei ihrer Maut eine solche Totalbefreiung nur bis 2025 vor. Warum haben wir als Schweiz, mit unserer guten und heute schon klimaneutralen Güterbahn als Alternative, hier einen anderen Zeithorizont als die EU?
Die Schweiz hat eine sehr gute Bahninfrastruktur für den Gütertransport. Gewisse Transporte bleiben aber auf der Strasse und sollen darum klimaschonend erfolgen, mit Elektro- und Wasserstoff-Lastwagen. Indem diese Fahrzeuge bis 2030 von der LSVA befreit bleiben, gibt es den für den Umstieg nötigen Schub. Auch diese Lastwagen werden sich danach aber an den Kosten der Strasseninfrastruktur und zur Deckung der externen Kosten beteiligen müssen. Parallel dazu soll die Schiene noch attraktiver gemacht werden, sowohl beim alpenquerenden Güterverkehr als auch in der Fläche. Es ist eine grosse Herausforderung, dass wir in der Fläche mehr Güter auf die Schiene bringen.
In der Schweiz droht beim Schienengüterverkehr ein Kahlschlag, weil das Dogma der Eigenwirtschaftlichkeit die Bahnbetreiber zu drastischen Sparmassnahmen zwingt. Es könnte zur Rückverlagerung auf die Strasse kommen, von 600’000 Lastwagenfahrten pro Jahr ist die Rede?
Der Einzelwagenladungsverkehr ist aufwändig und entsprechend teuer. Wir müssen ihn darum weiterentwickeln. Ich bin dazu auch mit der Branche im Kontakt. Es besteht der Wille, einen Beitrag zu leisten, denn die Einstellung des Einzelwagenladungsverkehrs hätte zur Folge, dass die ohnehin stark frequentierte Strasse mit mehreren Hunderttausend Lkw-Fahrten zusätzlich belastet würde. Ein gutes Angebot wäre zudem nur noch dort verfügbar, wo grössere Transportvolumen anfallen – also in den urbanen Gebieten. Es gehört jedoch zur DNA der Schweiz, auch periphere Regionen anzubinden. Mein Departement hat vom Bundesrat den Auftrag erhalten, zur Weiterentwicklung zwei Varianten in die Vernehmlassung zu geben. Braucht es mehr Unterstützung oder braucht es mehr Wettbewerb?
Mit der LSVA werden aktuell nur etwa ein Drittel der externen Kosten verursachergerecht abgegolten. Für zwei Drittel der externen Kosten, wie Lärm, Klimaschäden, Luftschadstoffe oder Stau, kommt die Allgemeinheit auf. Wird die für nächsten Sommer angekündigte Weiterentwicklung der LSVA hier gegensteuern?
Die Weiterentwicklung der LSVA bezweckt, dass der Strassengüterverkehr klimafreundlicher wird – und zur Bemessung der LSVA künftig auch der CO2-Ausstoss eines Lastwagens berücksichtigt wird. Das ist eine weitere Möglichkeit, mehr Kostenwahrheit im Strassengüterverkehr zu erreichen und ihn klimafreundlicher zu machen.
Kostenwahrheit erreichen wir aber erst, wenn wir für einen konventionellen Diesel-Lastwagen die LSVA verdreifachen.
Die LSVA beruht auf dem Landverkehrsabkommen, wir können sie darum nicht beliebig stark erhöhen. Wenn wir uns innerhalb von Europa vergleichen, haben wir aber mit der LSVA eine griffige Abgabe. Und jetzt geht es darum, den CO2-Ausstoss in die LSVA zu integrieren. Auch Europa setzt beim Gütertransport verstärkt auf die Bahn. Allerdings gibt es noch einen sehr grossen Aufholbedarf, was beispielsweise die Infrastruktur anbelangt. Das bremst dann auch die Schweiz. Der Druck der Schweiz – auch dank der Alpen-Initiative mit der gewonnenen Abstimmung von 1994 – trägt aber dazu bei, dass mehr in die Verlagerung der Güter auf die Schiene investiert wird.
Dank dem gemeinsamen Einsatz der Alpen-Initiative und des Bundes nimmt der alpenquerende Lastwagenverkehr ab – im Gegensatz zum Freizeit- und Lieferwagenverkehr durch die Alpen. Wie schützen Sie die Bevölkerung vor dem Ausweichverkehr durch die Dörfer auf den Nord-Süd-Achsen?
Die Situation ist für die betroffene Bevölkerung vor Ort unhaltbar. Ich habe allergrösstes Verständnis für ihre Verärgerung. Die betroffenen Regionen haben schon den Verkehr auf den Autobahnen durch die Täler, dazu kommt der Ausweichverkehr durch die Dörfer. Das ASTRA hat darum ein Pilotprojekt lanciert, um den Ausweichverkehr zu reduzieren. Das läuft im Kanton Graubünden, mit temporären Sperrungen von Autobahnanschlüssen oder zeitlich begrenzten Fahrverboten für den Transitverkehr auf Kantons- und Gemeindestrassen. Wichtig ist, gleichzeitig auf unsere hervorragende Bahninfrastruktur hinzuweisen, die wir für den Güterverkehr, aber auch für den Personenverkehr haben. Man ist heute von Zürich in knapp zwei Stunden in Lugano. Und dank des Ceneri-Basistunnels wurde es möglich, im Tessin auch eine S-Bahn zu verwirklichen.
Alpine Transit- und Verkehrspolitik ist ein extrem dickes und hartes Brett. Wie wichtig ist dabei das Engagement der Alpen-Initiative und anderer Alpenschutzorganisationen?
Es ist sehr wichtig. Jene, die die Alpen-Initiative vor 30 Jahren unterstützt haben, die haben gespürt, dass die Zeit reif ist und man nicht mehr länger tatenlos zuschauen kann, wie immer mehr Lastwagen durch die Alpen fahren. Sie haben die Alpeninitiative lanciert und damit einen zentralen Grundstein für unsere Verkehrs- und Verlagerungspolitik gelegt, die heute unbestritten ist. Es ist grossartig, dass in diesem Bereich inzwischen eine so breite politische Einigkeit herrscht. Auch die Transportunternehmen engagieren sich heute für gute Bahnangebote. In diesem Sinne war es ein ganz wichtiger und weitsichtiger Entscheid, die Alpeninitiative zu lancieren, und ebenso weitsichtig war es von der Bevölkerung, diese zu unterstützen. Heute hat die Bahn im alpenquerenden Güterverkehr einen Marktanteil von über 75%. Natürlich haben wir dafür viel Geld in die Bahnstrecken durch die Alpen investiert. Aber für mich ist klar, dass wir auf diesem Weg weiter gehen müssen: Wir brauchen in Zukunft noch mehr Bahn!
Danke, Simonetta Sommaruga!
Die Alpen-Initiative bedauert den Rücktritt von Bundesrätin Sommaruga und bedankt sich für ihr grosses Engagement für den Alpenschutz. Bundesrätin Sommaruga hat in den vier Jahren im Eidgenössischen Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK) die Verlagerungspolitik vorangetrieben. Sie hat umgesetzt, was sie 2019 anlässlich des 30-Jahre-Jubiläums der Alpen-Initiative als wirkungsvolles Massnahmenpaket für die Verlagerungspolitik angekündigt hatte: Dreckige Lastwagen müssen mehr Schwerverkehrsabgaben bezahlen, der Güterverkehr auf der Schiene bezahlt tiefere Trassenpreise. Kürzlich brachte sie eine wichtige Vorlage zur Stärkung des Schienengüterverkehrs in der ganzen Schweiz auf den Weg. Wir fordern, dass auch die Nachfolge von BR Sommaruga im UVEK die erfolgreiche Verlagerungs- und nachhaltige Verkehrspolitik weiter vorantreiben wird.