Während rund 14 Wochen, ab Schneeschmelze bis Mitte September, ziehen in der ganzen Schweiz Bauernfamilien mit ihren Kühen auf die Alp. Ein Besuch auf dem Urnerboden – der grössten Alp der Schweiz.
«Magsch äü äs Kafe?» Mit diesen Worten und einem starken Händedruck begrüsst mich Toni Marty in seiner Alphütte. Er zieht den Kopf ein, um ihn nicht am tiefen Balken des Türrahmens anzuschlagen und führt mich in die Stube – vom Kachelofen geheizt, gemütlich warm. Der Kaffee ist nicht so stark wie der Händedruck, eben ein «Schächätalerkafe» wie ich lerne. Ein dünner süsser Kaffee oder in Tonis Worten «Abwaschwasser mit Zucker», in den eigentlich noch ein Schuss Träsch – also ein Kernobstschnaps – gehört. Mit am Tisch sitzen Tonis Schwester Pia und seine Tochter Tanja.
Sie alle sind erfahrene Älpler, die von Kindsbeinen an den Sommer hier oben verbringen. Man schätze das Haus aufgrund der Bauweise auf über 400 Jahre, natürlich wurde «immer epä epis gmacht». Gekäst wird heute nicht mehr hier, die Milch bringt Toni zur Verarbeitung in die nahegelegene Alpkäserei. So befindet sich da, wo früher das Käsekessi war, heute hinter einem orangen Vorhang ein WC. Tanja erinnert sich noch an die Zeit davor, als sie sich als Kind in der Nacht jeweils mindestens zweimal überlegt hat, ob sie tatsächlich den Weg zum Plumpsklo neben dem Gaden auf sich nehmen muss. Auch heute ist die Einrichtung noch einfach, der Alltag naturnah. Das sei es mitunter, was das Leben auf der Alp ausmache. Deshalb packt die Lehrerin auch dieses Jahr mit an und verbringt die Sommerferien mit ihren drei Söhnen hier oben – ganz zur Freude von «Groosstädi Toni» und Grosstante Pia.
Tanja Marty, Lehrerin und Älplerin
« Die Einfachheit und die Nähe zur Natur macht die Arbeit auf der Alp aus. »
Tourismusmagnet Passstrasse
Der Alpbetrieb hat nicht nur in der Familie Marty eine lange Tradition, sondern ist auch sonst seit Jahrhunderten ein wertvolles kulturelles Erbe, das von Generation zu Generation weitergegeben wird. Hier auf dem «Ürnerbodä» sind es knapp fünfzig Älplerfamilien, die jedes Jahr z’Alp gehen. Den etwa tausend Kühen stehen achtzehn Quadratkilometer Weide zur Verfügung, was den Urnerboden zur grössten Alp der Schweiz macht. Eingebettet in die beeindruckende Berglandschaft der Glarner Alpen ist die Region seit jeher auch ein touristisches Ziel – nicht zuletzt der spektakulären Passstrasse wegen, die über den Klausenpass die Kantone Uri und Glarus verbindet. Gerade in den Sommermonaten zieht diese Route unzählige Ausflügler an, insbesondere Sportwagen, Töff und Velofahrende. Und so wird das Alpenidyll immer wieder von heulenden Motoren unterbrochen.
Verkehr hat sich verändert
Verkehr habe es immer gegeben, meint Toni pragmatisch und fügt an: «Was sich aber wesentlich verändert hat, ist die Vernunft der Auto- und vor allem auch derr Töfffahrer. Eine Passstrasse ist keine Rennstrecke.» Vielen scheine nicht bewusst zu sein, wo sie sich hier bewegen und dass sie sowohl auf die Kühe als auch auf die Älpler, die die Milch in die Käserei bringen, Rücksicht nehmen sollten. Daran ändern auch die zahlreichen Schilder entlang der Strasse nichts, die auf offenes Weidegebiet hinweisen, «Wer wagt – verliert» mahnen oder mit «Laut ist out» an einen vernünftigen Fahrstil appellieren. Dennoch sind sich alle drei einig, dass der Tourismus dazugehört und auch erwünscht ist – wenn man denn auch die lokale Wirtschaft mit einem Besuch im Restaurant oder einem Einkauf in der Käserei unterstütze.
Toni Marty, Landwirt und Älpler
« Verkehr gab es schon immer – er hat aber zu und die Vernunft abgenommen. »
Mutterkühe auf Oberstafel
Szenenwechsel. Nach unserer Schächätalerkafe-Unterhaltung und einem Besuch bei den Rindern auf der gegenüberliegenden Strassenseite machen Tanja, die beiden grösseren Buben und ich uns auf den Weg zur Oberstafel. Hier oben verbringen zehn Mutterkühe den Sommer. Mit im Gepäck, in einem ausgedienten Militärrucksack, ein «Ggläck» – ein gut zehn Kilo schwerer Salzleckstein. Etwa zwei bis drei Mal pro Woche wandert Tanja hier hinauf, um zu den Kühen zu schauen und wie heute einen ergänzenden Leckerbissen vorbeizubringen. Rund eine Stunde wandern wir über das Weideland an unzähligen «Munggälecher» vorbei den Berg hinauf. Es liegt nicht nur an den beiden Kindern, die freudig auf die vielen verschiedenen Blumen, Raupen, Schmetterlinge, Käfer und Pilze hinweisen, die Vielfalt an Tier und Pflanzenarten scheint hier tatsächlich immens.
Hotspot der Biodiversität
Tatsächlich ist der Urnerboden von grosser kulturlandschaftlicher und ökologischer Bedeutung. Insbesondere liegt hier eine Moorlandschaft von nationaler Bedeutung. Diese scheinbar unscheinbaren Feuchtgebiete sind unverzichtbarer Lebensraum für eine Vielzahl von seltenen und bedrohten Tier und Pflanzenarten und spielen eine entscheidende Rolle für die Biodiversität. Darüber hinaus binden Moore grosse Mengen an Kohlenstoff und wirken damit der Klimaerwärmung entgegen. Speziell für das Gebiet ist ausserdem sein grosser Reichtum an Lebensräumen, wie riesige Trockenwiesen und Weiden von nationaler Bedeutung, Auenbereiche und Felsflächen.
Wertvolles Wasser
Die zehn Mutterkühe sind alle wohlauf und die Viehtränke mit Wasser gefüllt. Trockenheit und Wassermangel, wie man ihn von anderen Alpen kennt, sei hier schon auch ein Thema. Allerdings nicht so prekär, dass man je den Beschluss fassen musste, früher ins Tal zurückzukehren. Tanja befürchtet aber, dass sich dies in den nächsten Jahren ändern könnte: «Auch wenn die Kühe feuchtes Gras fressen, trinken sie doch noch gute vierzig Liter Wasser pro Tag – an heissen Tagen mehr.» Ohne Niederschlag und nach schneearmen Wintern mit wenig Schmelzwasser dürfte es schwierig werden, diese Mengen in die Tränken auf den Alpen zu bekommen.
Für mich wird es Zeit für meinen persönlichen «Alpabzug». Während ich Richtung Linthal fahre und Schächätalerkafes, Raupen und Mutterkühe gedanklich Revue passieren lasse, werde ich in einem halsbrecherischen Manöver und mit heulenden Motoren von zwei Töfffahrern überholt. Laut scheint bei ihnen leider gar nicht out. Und ich muss an den Wunsch unserer drei Älpler nach mehr Vernunft denken.