Corine Mauch präsidiert die grösste Stadt der Schweiz. Sie setzt
andere Prioritäten als der Bundesrat, wenn es um die Investitionen in
die Verkehrsinfrastruktur geht.
tob. Das Schweizer Stimmvolk hat sich 1994 und 2004 gegen eine zweite Strassenröhre am Gotthard ausgesprochen. Jetzt schlägt der Bundesrat vor, doch einen solchen Tunnel zu bauen. Welche Bedeutung hat dieses Projekt für die Stadt Zürich?
Corine Mauch: Entscheidend für den ganzen Wirtschaftsraum Zürich und nicht nur für die Stadt Zürich sind beste Verkehrsverbindungen. Das zeigen auch alle Firmenbefragungen. Der Gotthard-Basistunnel bedeutet für die Anbindung des Tessins an die Deutschschweiz und die Verbindung Zürich–Mailand einen Quantensprung. Die Schiene wird gegenüber der Strasse und dem Flugzeug konkurrenzfähig. Die neu ins Spiel gebrachte zweite Strassenröhre am Gotthard hingegen ist ein sehr teures Projekt, das Mittel binden würde, die andernorts viel dringender gebraucht werden. Die grössten Verkehrsprobleme hat die Schweiz heute in den Agglomerationen.
Nicht nur in der Westschweiz haben sich Politikerinnen und Politiker gemeldet, die um Verkehrsvorhaben in ihrer Region fürchten. Teilen Sie diese Bedenken?
Für uns in Zürich war und ist es klar, dass wir einen Beitrag zur Erschliessung peripherer Landesteile leisten wollen. Die Zürcherinnen und Zürcher haben darum den nationalen Finanzausgleich immer unterstützt, obwohl wir Hunderte von Millionen in das System einspeisen müssen. Umgekehrt gilt aber auch, dass man die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Zentren nicht schwächen darf. Es ist darum vordringlich, dass die Probleme des Agglomerationsverkehrs schnell gelöst werden. Die Allokation der Mittel muss über das gesamte Verkehrssystem hinweg wirksam und optimal sein. Mit einem zweiten Strassentunnel am Gotthard ist das nicht der Fall.
Welches sind die vordringlichsten Verkehrsinfrastruktur-Vorhaben im Raum Zürich?
Es braucht den Brüttener Tunnel zwischen Zürich und Winterthur. Davon profitiert auch die Ostschweiz stark. Dann brauchen wir eine durchgehende SBB-Doppelspur Richtung Zug. Einerseits ist dies wegen des Regionalverkehrs Richtung Zug wichtig, aber auch um die Vorteile des neuen Gotthard-Basistunnels voll zu nutzen. Wichtig ist auch die neue Stadtbahn im Limmattal. Diese Region boomt und braucht verkehrsseitig zukunftsfähige Konzepte. Darum wollen wir das Tramnetz Richtung Baden ausbauen. Aus Sicht der Autofahrenden dringend ist der Ausbau des Gubristtunnels. Dort staut der Verkehr an 350 Tagen im Jahr, am Gotthard aber sind es weniger als 150 Tage.
Der Gotthard-Strassentunnel zählt durchschnittlich 17’000 Fahrzeuge pro Tag. Staus ergeben sich nur beim Freizeit- und Ferienverkehr. In der Agglomeration werden auf Autobahnabschnitten zum Teil weit über 100’000 Fahrzeuge pro Tag gezählt. Wie viele sind es auf den meistbefahrenen Strassen in der Stadt Zürich selber?
Allein innerhalb der Stadt zählen wir auf der A1 in Schwamendingen 85’000 Fahrzeuge pro Tag. Auf der Hardbrücke sind es 38’000 und auf der Quaibrücke 46’000 Fahrzeuge.
Wie beurteilen Sie einen Vergleich von Kosten/Nutzen zwischen Gotthard-
Strassentunnel (gut 2 Milliarden Franken) und der Zürcher Bahn-Durchmesserlinie (auch zirka 2 Milliarden Franken)?
Punkto Nachhaltigkeit ist der Unterschied evident. Die Bahn ist – auch unter Berück-sichtigung der Lärmproblematik – unbestritten umweltfreundlicher als der Strassenverkehr. Auch eine quantitative Betrachtung zeigt ein klares Bild: Selbst eine Quartierverbindung wie die Bergstrasse in Zürich-Hottingen wird von 16’000 Fahrzeugen pro Tag passiert, also in etwa gleich viel wie der Gotthardtunnel. In jeder grösseren Stadt der Schweiz gibt es Strassen, die ein Mehrfaches an Strassenverkehr schlucken müssen, wie er am Gotthard anfällt.
Wie ist Zürich vom Transitschwerverkehr betroffen, und macht die Verlagerung des Güterverkehrs von der Strasse auf die Schiene auch für Zürich Sinn?
Dank der Westumfahrung konnten wir ganze Stadtquartiere vom Transitverkehr befreien und die Strassen zurückbauen. Die berühmt-berüchtigte Weststrasse ist heute eine beliebte Wohnstrasse. Aber Umfahrungen lösen das Klimaproblem nicht. Die CO2-Problematik ist kein lokales Phänomen. Wenn wir mit einer gescheiten Politik im Alpentransit CO2 sparen, dann nützt das allen. Darum ist der Gotthard-Basistunnel wichtig und ein zweiter Strassentunnel eine Fehlinvestition.
Wie sieht aus Ihrer Sicht nachhaltige Mobilität aus, gerade vor dem Hintergrund globaler Zusammenhänge und der Klimaerwärmung?
Beim Verkehr haben wir einen Zuwachs der Emissionen. Wir müssen die CO2-Emissionen des Verkehrs darum dringend senken. Es braucht eine Umlagerung zu mehr öV, zu mehr Schienenverkehr und im Bereich der kurzen Wege zu mehr Langsamverkehr.
Gibt es in Bezug auf nachhaltige Mobilität Unterschiede zwischen dem Verkehr am Gotthard und jenem in Zürich?
Es gibt konzeptionelle Unterschiede. Der Langsamverkehr hat in der Stadt eine zentrale Rolle, im Verkehr Richtung Tessin naturgemäss nicht. Dort sind schnelle Bahnverbindungen wichtig. Mit dem Basistunnel bauen wir die notwendige Infrastruktur dafür.
Wie sieht es aus mit Staus in und um Zürich im Vergleich mit den Staus am Gotthard?
Es gibt eben sehr wohl einen Zusammenhang. Weil die finanziellen Ressourcen begrenzt sind, muss dort investiert werden, wo der Gesamtnutzen für die Schweiz am grössten ist. Das ist nun einmal nicht am Gotthard. Das zeigt ein Blick auf die Staukarte der Schweiz klipp und klar.
Der Vorschlag von Doris Leuthard, eine zweite Röhre zu bauen, die beiden Tunnels dann aber nur je einspurig zu befahren, ist aus unserer Sicht unehrlich. Können Sie persönlich glauben, dass die beiden Röhren dereinst nur je einspurig befahren werden, obwohl sie zweispurig gebaut werden müssen?
Ich erwarte selbstverständlich, dass der Bundesrat die Verfassung respektiert. Doch in zwanzig bis dreissig Jahren, wenn die zweite Röhre fertiggestellt und der alte Tunnel saniert sind, wird die Lage eine ganz andere sein. Ich fürchte, man wird sich dann entweder über eine Milliarden-Investition ärgern, die nicht genutzt werden darf, oder man benützt die zweite Röhre und ärgert sich, dass die Milliarden-Investitionen in die Neat nicht rentieren, weil man den Verkehr von der Bahn zurück auf die Strasse lockt.
Wie oft fahren Sie persönlich durch den Gotthard?
Ich habe kein Auto. Wenn ich in den Tessin oder nach Italien reise, so mache ich das per Bahn.
Was bedeutet diese Verbindung in den Tessin für Sie persönlich?
Als oberste Chefin der Zürcher Filmförderung freue ich mich jedes Jahr auf das Filmfestival in Locarno. Ich geniesse diese Tage im Tessin immer, und manchmal gelingt es mir sogar, noch einige Tage anzuhängen und in den Tessiner Bergen die eine oder andere wunderschöne Wanderung zu machen.
Sehen Sie den Zusammenhalt der Schweiz gefährdet, wenn während der Zeit der Sanierung des Gotthard-Strassentunnels ein Ersatzangebot auf der Schiene bereitgestellt wird, wie das der Bundesrat 2010 in seinem Grundlagenbericht vorgeschlagen hat?
Nein, der Zusammenhalt der Schweiz hängt nicht an einem weiteren Tunnel durch den Gotthard. Wichtig sind gegenseitiges Verständnis, Solidarität und gute Verbindungen. Mit der Neat schaffen wir die schnellste und beste Nord-Süd-Verbindung aller Zeiten. Der Scheiteltunnel kann als temporärer Ersatz für den Strassentunnel dienen. Das ist klüger und erst noch klar günstiger als eine zweite Röhre. Zürich und das Tessin verbindet etwas aber ganz speziell. Die Künstlerkolonie auf dem Monte Verità und die Zürcher Dada-Bewegung waren Wiegen eines neuen Kunstverständnisses. Deshalb wollen wir an der Feier zum 100. Geburtstag von Dada im Jahr 2016 auch den Tessin einbeziehen.
«Selbst eine Quartierverbindung wie die Bergstrasse in Zürich-Hottingen wird von 16’000 Fahrzeugen pro Tag passiert, also in etwa gleich viel wie der Gotthard-Tunnel.»
«Wenn ich in den Tessin oder nach Italien reise, so mache ich das per Bahn.»