22. April 2015

«Das heutige Schwerverkehrsvolumen im alpenquerenden Verkehr bedeutet eine Verfassungsverletzung.» Dies sagt Markus Kern von der Universität Freiburg. Der Alpenschutz wird von mehreren Seiten attackiert.

tob. Eine 2. Strassenröhre am Gotthard schadet der Bergwelt dauerhaft. Das tut auch der verschleierte Plan des Bundesrats, den Lastwagenverkehr durch die Alpen nicht einzuschränken und die erlaubte Maximalzahl zu erhöhen. Die Alpen-Initiative wollte es wissen: Sind diese bundesrätlichen Absichten überhaupt verfassungs- und gesetzeskonform?

Die Studie des Instituts für Europarecht der Universität Freiburg, verfasst von Markus Kern in Zusammenarbeit mit Astrid Epiney, fand klare Worte: Der Bund verletzt die Verfassung, da die Zahl der alpenquerenden Lastwagen mit 1’143’000 Fahrten (2013) weit über dem Verlagerungsziel liegt. Dieses Ziel wurde direkt aus der Verfassung Art. 84 abgeleitet und im Gesetz fixiert. Das Gesetz besagt, dass 2011 nur noch 1 Million Lastwagen pro Jahr die Alpen durchqueren dürfen. 2018 dürfen es nur noch 650’000 sein. Gemäss Markus Kern haben die Bestimmungen nichts von ihrer Verbindlichkeit eingebüsst. Das heisst: Der Bundesrat steht nach wie vor in der Pflicht, den Verfassungsauftrag zu erfüllen und die Zahl der Lastwagenfahrten zu reduzieren.

«Problematisch» und «unfair»
Doch damit nicht genug. Um die 2. Röhre zu bauen, umgehen Bundesrat und Parlament die Verfassung. Sie geben vor, die faktische Kapazitätserhöhung mit einem Gesetz zu verhindern. Doch auch dies widerspricht den Grundregeln einer Volksdemokratie. So schrieb das Bundesamt für Justiz, dass die vorgeschlagene Lösung für eine 2. Röhre zwar rechtlich machbar, aber «staatspolitisch problematisch» sei. Unter dem Blickwinkel der freien Willensbildung könne das Vorgehen sogar als «unfair» taxiert werden.

Der bekannte Staatsrechtler Alain Griffel schrieb in der NZZ und in Le Temps zur 2.-Röhre-Vorlage: «Die vorgesehene gesetzliche Regelung vermag die Verfassungswidrigkeit des Vorhabens nicht zu bannen oder zu beseitigen, weil sie als Sicherung von vornherein nicht genügt.» Grundsätzlich sei eine Anpassung des Alpenschutzartikels zulässig, «aber nur auf dem Weg der Verfassungsrevision, nicht durch die Hintertür».

Doppelter Angriff
Über all diese staatsrechtlichen Einwände haben sich Bundesrat und Parlament hinweggesetzt – zum Schaden der Demokratie und der Glaubwürdigkeit der staatlichen Institutionen. Immerhin kann das Volk dank unseres erfolgreichen Referendums nächstes Jahr über die 2. Röhre abstimmen. Dabei ist das Nein zur 2. Röhre ein Ja zum Alpenschutz, ein Ja zur Verlagerung der Güter auf die Schiene und ein Ja zur NEAT. Deren Kernstück – der Gotthard-Basistunnel – wird nächstes Jahr eröffnet.

Dieses Nein zur 2. Gotthardröhre ist umso wichtiger, da der Alpenschutz mit der baulichen Verdoppelung der Strassenkapazität und der geplanten Aufweichung des Verlagerungsziels doppelt untergraben würde – mit fatalen Konsequenzen. Wenn die internationalen Speditionsfirmen sehen, dass die Schweiz die Strassenkapazitäten durch die Alpen ausbaut, werden sie nie und nimmer ihre Gütertransporte auf die Schiene verlagern. Deshalb würde sich mit einer 2. Strassenröhre am Gotthard die Zahl der Lastwagen durch die Schweiz verdoppeln. Dann hätten wir Zustände wie am Brennerpass zwischen Österreich und Italien, über den jährlich bis zu zwei Millionen Lastwagen fahren! Das ist keiner Region im Alpenbogen zumutbar. Die Alpen sind ein ökologisch hoch sensibles Gebiet mit einem sehr beschränkten Siedlungsraum. Sie leiden unter Lärm und Luftverschmutzung deutlich stärker als das Flachland.

An die Zukunft denken
Transitstrassen dienen einseitig den Zentren und den global agierenden Unternehmen. Die kleinräumigen Strukturen, wie sie die Natur in den Bergen vorgibt, werden zerstört. Es ist kein Zufall, dass die Leventina und das obere Reusstal unter Abwanderung leiden. «Es gibt für die Alpen nur dann eine positive Zukunft, wenn zentrale Selbstverständlichkeiten unserer modernen Welt infrage gestellt werden», schreibt der renommierte Alpenforscher Werner Bätzing. Das heisst auch: Die Alpen ertragen kein unbeschränktes Verkehrswachstum. Auch deshalb ist eine 2. Gotthardröhre keine zukunftstaugliche Lösung.