18. April 2011

Eher zufällig wurde der Tessiner Sergio Mariotta Forstingenieur – und nicht Fischer. Seit Jahren setzt er sich für eine lebenswerte Leventina ein. Eine zweite Gotthardröhre würde wie eine Drainageleitung wirken, sagt er.

tob. Sergio Mariotta lebt seit 1989 in Chironico, einem Dorf zwischen Biasca und Airolo. Er ist verheiratet, hat Jahrgang 1960 und drei Kinder. In mehr als zwei Vereinen könne er nicht mitmachen, sagt er. Dazu fehlt ihm die Zeit, dazu engagiert er sich zu gewissenhaft. Die zwei Vereine, die heute ganz auf ihn zählen können, stehen für sehr Unterschiedliches. Sergio Mariotta spielt in der Filarmonica Faidese nicht nur Posaune, sondern er präsidiert die Harmoniemusik auch. Zugleich amtet er als Sekretär von Leventina vivibile, das heisst: Er führt den präsidentenlosen Verein auch, der sich um eine umweltverträgliche und menschengerechte Entwicklung der Leventina bemüht. Gegründet wurde Leventina vivibile 2001, unmittelbar nach dem schweren Unfall im Gotthard-Strassentunnel.

Seit vielen Jahren ist Sergio Mariotta auch Mitglied der „Alpen-Initiative“. Er ist davon überzeugt, dass die Güter auf die sichere Bahn gehören und die Gotthardroute von den Lastwagen entlastet werden muss. Von diesem Ziel will Sergio Mariotta nicht ablassen. Dabei kommt es ihm vor, als müsse er bei den Diskussionen am Gotthard immer wieder zum Ausgangspunkt zurückkehren. So wie jetzt mit der erneut laut lancierten Forderung nach einer zweiten Röhre.

„Viele Leute in der oberen Leventina wollen die Staus weghaben, auch jenen auf der Kantonsstrasse, das ist ein Problem für die Einwohnerschaft. Das ist aber auch ihr Motiv, um nach einer zweiten Röhre zu rufen“, sagt Sergio Mariotta. Dass mit den aktuellen Vorschlägen von zwei einspurig befahren Röhren in Sachen Stau nichts gewonnen ist, interessiere niemanden. Denn allen sei klar, dass – sollte eine zweite Strassenröhre gebaut werden – die Kapazitäten voll genutzt werden. „Zudem drängt Italien auf die zweite Röhre, um freie Durchfahrt zu haben – sie bauen ja bereits an einer dritten Spur zwischen Mailand und der Schweizer Grenze.“ Für ihn ist klar, dass die Verkehrsprobleme anders gelöst werden müssen als mit einer zweiten Strassenröhre.

Im vergangenen Jahr bereitete Sergio Mariotta für die Alpen-Initiative das „Feuer in den Alpen“ beim Ritomsee vor. Trotz tagelangem Regen brannte das Holz sofort lichterloh. Das war kein Zufall. Er hatte das Höhenfeuer sorgfältig geschichtet aus trockenem, naturbelassenem Holz, das er draussen im Wetter mit einer Blache abdeckte. Ein fachmännisch hergerichtetes Feuer, an dem jeder Umweltschutzbeauftrage seine helle Freude hätte haben müssen.

Aufgewachsen ist Sergio Mariotta in Muralto am Lago Maggiore. Sein Grossvater war Berufsfischer, auch sein Vater fischte gerne. Nach der Matura reparierte Sergio Mariotta Kaffeemaschinen. Dann entschied er sich für ein Studium an der ETH Zürich. Eigentlich wollte er Agronomie studieren. Als er aber die Vorlesung „Jagd und Fischerei“ im Programm der angehenden Forstingenieure sah, entschied er sich für dieses Studium. Die Vorlesung habe der Professor dann aber so langweilig gestaltet, dass er sie nur einmal besucht habe, sagt Sergio Mariotta. Die Praktika hingegen im Zürcher Forstkreis 1 und im Puschlav überzeugten ihn endgültig von seiner Berufswahl. Heute ist er Teilhaber eines Ingenieursbüros in Faido, das in den Bereichen Wald, Wasser, Abwasser und Forststrassen arbeitet. Er plant aber auch mit am Windparkprojekt auf dem Gotthard.

Ein eindrückliches Erlebnis für Sergio Mariotta war der Besuch im Schwarzwald während des Studiums: Anschauungsunterricht in Sachen Waldsterben. „Heute besteht die Gefahr, dass riesige Waldflächen einfach absterben, kaum mehr. Aber die Schadstoffe stressen die Bäume und machen sie anfällig beispielsweise auf lange Trockenheit“, weiss der Forstingenieur aus Erfahrung. So hat er in Tessiner Kastanienwäldern viele abgestorbene Bäume entdeckt. „Kastanien können lange leiden und entsprechende Schäden verkraften. Dass sie aber wegen ausbleibendem Regen ganz absterben, ist aussergewöhnlich.“

Seine konkreten Erfahrungen in der Leventina verbindet er mit grundsätzlichen Gedanken: „Heute haben wirtschaftliche Interessen mehr Gewicht als die Gesundheit und das Wohlergehen des Einzelnen“, sagt er. Es sei die Kardinalssünde der Wirtschaft, dass sie immerzu wachsen wolle. Widersprüche ortet er beim Tessiner Tourismusverein: „Der Verein glaubt, der Tourismus lasse sich mit einer zweiten Röhre beleben. Das ist ein kurzfristiges Denken. Graubünden und Wallis sind auch Tourismuskantone – aber die wollen keinen zusätzlichen Durchgangsverkehr. Deshalb freuen sie sich, wenn alles durch Uri und das Tessin rollt.“ Auch wirtschaftlich bringe eine zweite Röhre dem Tessin nichts. „Die Abwanderung aus den Dörfern lässt sich nicht stoppen. Im Gegenteil: Ein zweite Röhre würde wie eine Drainageleitung wirken und die Abwanderung zusätzlich fördern.“