23. Juli 2015

Mit der NEAT rücken Tessin und Deutschschweiz viel näher zusammen. Die Westschweiz hat wenig davon. Für Jacques Lévy von der ETH Lausanne ist es nun an der Zeit, dass mehr Geld in die Strecke Genf–Bern–Zürich–St.Gallen gesteckt wird.

ip. Die NEAT hat nur einen geringen Einfluss auf die Romandie, da die Westschweiz und Italien via den Simplon-Pass verbunden sind. «Aufs Tessin aber wirkt sich die NEAT sehr stark aus, fast wie eine Riesenwelle», ist Panagotis Tzieropolus, Verkehrsplaner an der ETH Lausanne, überzeugt.

Auch Jacques Lévy, der als Professor für Geographie und Städtebau ebenfalls an der ETH Lausanne lehrt, ist davon überzeugt, dass die neue Alpentransversale für die italienische Schweiz erfolgversprechend sein wird. «Die NEAT verringert nicht nur die Distanz, sondern verstärkt auch die Verbindung zwischen dem Herzen der Schweiz, dem Tessin und dem Norden Italiens.»

Urbane Regionen besser verbinden
Doch jetzt, wo man auf der Schiene den Nord-Süd-Korridor ausgebaut hat, fordert Jacques Lévy auch den Ausbau der West-Ost-Achse. So müsse jetzt nach den erfolgreichen Arbeiten am Gotthard die Diskussion um die Verbesserung der Verbindung zwischen Genf und St. Gallen wieder aufgenommen werden. Insgesamt zählt die Schweiz acht Millionen Einwohner, von denen ein grosser Teil in den Städten an der West-Ost-Achse wohnt. Allein die grenzübergreifenden Agglomerationen von Genf und Basel haben gleich viele Einwohner wie die ländlichen Regionen der gesamten Schweiz zusammen. Die Verbindungen zwischen den urbanen Regionen unseres Landes hält er noch für stark ausbaufähig. Und hier sollte in Zukunft das Geld investiert werden, denn hier stellten sich die grössten Herausforderungen für die Zukunft. «Die Zurückhaltung beim Ausbau der urbanen Schweiz bremst die Entwicklung des Landes», so Jacques Lévy.

Während Frankreich in Hochgeschwindigkeitsverbindungen investiert, entwickelt die Schweiz flächendeckend ein leistungsstarkes Eisenbahnnetz. Als negative Folge gibt es immer mehr Zersiedelung – vor allem im urbanen Raum. Gleichzeitig werden die Verbindungen zwischen den wirtschaftlichen Zentren geschwächt. «Alle Strecken werden verkürzt – nur die zentralen Städte rücken nicht näher zusammen.» So beträgt die Zugfahrt von Genf nach Zürich fast gleich lang wie in die französische Hauptstadt – und dies obwohl Paris eigentlich doppelt so weit entfernt liegt.

Jetzt ist die Romandie dran
Die NEAT am Lötschberg und am Gotthard bilden das Herzstück des europäischen Eisenbahn-Güterverkehrskorridors Rotterdam–Mailand/Genua. Zudem verbindet der Gotthard-Basistunnel die Deutschschweiz und das Tessin optimal. Jacques Lévy betont, dass es aber genauso wichtig ist, neben dem Tessin auch die Westschweiz besser an die Deutschschweiz anzubinden. «Eine schnelle Verbindung zwischen Genf und Zürich würde die Qualität in den Schweizer Städten erhöhen und die urbane Zersiedelung stoppen.»

Quer zu dieser Forderung stehen die Pläne, am Gotthard nach dem Eisenbahn-Basistunnel nun auch noch eine 2. Strassenröhre zu bauen. Der Mobilitätsfachmann und Soziologe Vincent Kaufmann, der ebenfalls an der ETH Lausanne unterrichtet, bezeichnete die Vorlage einer 2. Gotthardröhre als «Schweizer Anachronismus». Er prangert das «politische Spiel» um dieses Strassenausbauprojekt an und bemängelt die «fehlende vorausschauenden Perspektive».

Die 2. Strassenröhre am Gotthard steht ebenfalls quer zur Absicht, mit der NEAT den Güterverkehr von der Strasse auf die Schiene zu bringen. Dazu muss die Schiene gegenüber der Strasse wieder wettbewerbsfähiger werden. Massnahmen dafür wären etwa die Erhöhung des Dieselpreises, respektive der LSVA, oder die strikte Einhaltung der Arbeitszeitvorschriften für Lastwagenfahrer. Für Verkehrsplaner Panagotis Tzieropulos ist klar, dass es letztlich den politischen Willen braucht, um die angestrebte Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene zu erreichen.