Echo Nr. 77
Als Martin Graf im Frühjar 2000 als Vorstandsmitglied zur Alpen-Initiative kam, ahnte niemand, wie unentbehrlich er bald sein würde: als Bahnspezialist, als Aktivist und als Freund. Porträt eines ungewöhnlichen Weltreisenden.
chm. «Für die Alpen-Initiative habe ich leider nie viel getan», lächelt Martin Graf. Die Kunst der Untertreibung hat er wohl neben seinem Studium an der London School of Economics gelernt. Denn seit 1996 war er bei fast jeder Aktion und jeder Versammlung mit dabei, und zwar in ganz Europa, vor allem in der Mont-Blanc-Region und der Maurienne, recherchierte, packte mit an, hielt Vorträge. Mehr noch: Wenn kleinrädrige Tiefgangwagen für die Rola im Gespräch sind, wartet er mit allen Details zu Modalohr und Bombardier auf. Wenn die Alpen-Initiative eine Aktion plant, weiss Martin am besten, welche Firma wann welche Route befährt und wer per Zug transportiert. Denn er schaut gleich vor Ort in Deutschland und Italien, ob ein Modalohr-Terminal Platz hätte – er spricht mit allen und hört allen zu: den Firmendirektionen, den Chauffeuren, den Bahnhofvorständen, den Rangierarbeitern, den Bürgermeistern.
Vom Zirkus bis nach Afrika
In Genf wohnt er mit Aussicht auf Mont-Blanc und Jura, vor allem aber nahe beim Bahnhof. Denn Martin ist ständig auf Achse, sein Leben lang. Er kam 1935 in Langnau zur Welt und hatte keine einfache Jugend: der Vater kränkelte, die Mutter starb früh, die vier Brüder mussten hart anpacken. Martin besuchte die Verkehrsschule St-Gallen und gab nach fünf Jahren die sichere Stelle bei der Post auf: verrückt! Er studierte in London und schlug sich mit kleinen Jobs durch, als Reiseleiter oder im Früchte- und Gemüsevertrieb Covent Garden.
1961 sah er ein Inserat des Zirkus Knie: Direktionssekretär gesucht. Fünf Jahre lang war er Fredy Knies rechte Hand, stellte Personal an, schrieb Verträge, organisierte die Zirkustransporte und die heiklen Käufe englischer Pferde. Und er unterstützte Fredy Knie auch, als sich dieser erfolgreich gegen die Idee wehrte, den Zirkus per Lastwagen statt per Bahn zu transportieren.
Dann kam der Ruf nach Afrika: Ein Freund empfahl ihn der Alusuisse als jenen Mann, der die vernachlässigte Bauxit-Mine in Sierra Leone sanieren könnte. «War eigentlich ganz einfach», meint Martin Graf, wie er die Transporte der Mine mit 1’000 Arbeitern reorganisierte und die Produktion vervielfachte. Nach zwei Jahren beorderte ihn Alusuisse nach Australien, um dort eine Mine aufzubauen (das grösste Projekt Australiens, präzisiert ein Mitarbeiter).
In Australien traf er seinen Cousin, Besitzer von Opal- und Saphir-Minen. Martin Graf lernte «das Nötigste über Edelsteine» (die Zollverwaltung fragte ihn oft für Expertisen an). In Genf gründete er zusammen mit seinem Ex-Alusuisse-Kollegen Jean-Pierre Abgottspon und einer Ex-Zirkus-Sekretärin die «Martin Graf AG» für Edelsteinimporte, die er bis zur Pension betrieb. Abgottspon ging es wie vielen anderen: Er staunte, was dieser äusserlich so unauffällige Mann alles anpackte. Er sei in der wechselhaften Edelsteinbranche einer der Kleinen, Vorsichtigen gewesen, sagt Martin, kein schnelles Geld, kein schneller Ruin. Das bestätigt Abgottspon: Ja, aber die Graf AG sei die Nummer 1 für Opal in Europa geworden und bei den Händlern sehr bekannt. Martin wurde immerhin so sesshaft, um die Französin Christiane Auvernier zur Frau fürs Leben zu erküren: sie arbeitete in der Reisebranche, als Air Hostess.
Reisen erhält die Freundschaft
Martin fand Autofahren bald zu ermüdend und zu gefährlich. Da packte er lieber den «Monteurkoffer» voller Edelsteine in den Speisewagen und besuchte so die Kundschaft im In- und Ausland. Im Zug schloss er Freundschaften fürs Leben, und immer wieder «half er ein bisschen». Manchmal geriet das zum Abenteuer, wie im August 1968, als er für seine Bekannten des «Prager Frühlings» Informationen in der Sowjetunion beschaffte. Nur mit viel Glück konnte er noch ausreisen, drei Tage später marschierten die Russen zum zweiten Mal in Prag ein. Später verkaufte er das Edelsteinlager an seinen Neffen, «half ihm ein bisschen » beim Einstieg in die Branche. Er pflegt seine Freundschaften: wenn er nicht auf Reisen ist, beherbergt er Gäste. Dem Göttibuben in der Tschechei «half er ein bisschen» und baute ihm ein Restaurant.
Jetzt will Martin ein bisschen kürzer treten – Das sieht so aus: Gestern war er in Iselle (I) und erfuhr Interessantes über den Transport im Simplon, abends in Annemasse (F), heute geht’s kurz nach Ferney-Voltaire (F). Nächstens fährt er für die Gruppe Bahntransport des VCS nach Modena (I), begleitet dann einen Freund nach Innsbruck (AU) und übers Südtirol (I) zurück, weil da ein anderer Bekannter eine Bahn baut. Wir wünschen ihm einen schönen Un-Ruhestand und zählen darauf, dass er weiter für uns denkt und reist, ein bisschen.
CEVA: Eine fixe Idee älterer Herren
chm. In Genf klafft zwischen den Bahnhöfen Cornavin und Eaux-Vives eine Lücke. Der Autoverkehr von Annemasse her verstopft das Genfer Zentrum. Der VCS und die Linken wollten eine Leichtmetro bauen, die Autolobby eine neue Strasse. Nur ein Grüppchen verrückter älterer Herren fand, zwischen zwei Bahnhöfen baue man doch eine Eisenbahn, die Pendler, Touristen und Güter zwischen Genf und Hochsavoyen endlich auf die Bahn bringe. Die starrköpfigen Herren gründeten die Alp-Rail. Martin Graf blieb im Hintergrund, doch während fast drei Jahren knöpfte er sich in der Buvette des Grossen Rates die Abgeordneten einzeln vor: freundlich, hartnäckig, sachkundig. «Am Anfang waren alle gegen uns», lächelt er fein. Eine neue Bahn? Nicht durchsetzbar, zu kompliziert, es gebe keine Bundesgelder. Die CEVA-Lobby grub ein Versprechen des Bundes aus dem Jahr 1912 aus, und Moritz Leuenberger bestätigte: «Die Konvention von 1912 gilt, der Bund zahlt.» Alp-Rail überzeugte Linke und Grüne, Liberale und Automobilisten. Im Jahr 2000 sprach der Grosse Rat einstimmig (eine Enthaltung) den Studienkredit, 2002 unterschrieben Bund, Kanton und SBB ein Abkommen. 2005 soll die Linie Cornavin-Eaux-Vives-Annemasse (CEVA) in Bau gehen, selbst wenn die Bundesgelder mit Verspätung erst nach 2007 eintreffen. Und Martin Graf? Er hat längst eine andere Idee entwickelt: den Eisenbahnbasistunnel durch den Mont-Blanc.