20. Juni 2011

Uris Stimmberechtigte sprachen sich am 15. Mai einmal mehr gegen eine zweite Strassenröhre am Gotthard aus. Parlament und Regierung waren dafür. Ist in der EU gleich viel Demokratie möglich? Der Demokratieexperte Bruno Kaufmann sieht erste Ansätze dafür.

ta. Wir fragen uns nach der Abstimmung in Uri erneut: Regieren die Politiker am Volk vorbei?
Bruno Kaufmann: Es ist offensichtlich, dass sich in der Frage des Alpenverkehrs die führenden Politiker mit der konsequenten Verlagerungspolitik der Volksmehrheit immer noch schwer tun. Es fällt Lobbyisten häufig einfacher, eine kleine Gruppe von Gewählten zu beeinflussen als ein ganzes Volk auf ihre Seite zu ziehen. Hinzu kommen kurzfristige wirtschaftliche Interessen und Abwägungen, die in Regierung und Parlament oft eine grössere Bedeutung spielen als bei Stimmberechtigten, die in dieser Frage offensichtlich längerfristig denken.

Die Schweiz kennt stark ausgeprägte Formen der Bürgerbeteiligung. In der EU fehlen solche Instrumente noch. Nun wurde aber beschlossen, eine «Europäische Bürgerinitiative» einzuführen. Gibt es in der EU schon bald eine direkte Demokratie nach Schweizer Vorbild?
So schnell geht das alles nicht. Aber immerhin wird auf EU-Ebene seit mehr als zwei Jahrzehnten überlegt, wie die Bürgerinnen und Bürger direkt in den Gesetzgebungsprozess einbezogen werden können. Dank eines umfassenden und langfristigen zivilgesellschaftlichen Engagements ist nun ein detailliertes und aus meiner Sicht durchaus vielversprechendes neues Verfahren beschlossen worden, eben diese «Europäische Bürgerinitiative».

Wie funktioniert diese Bürgerinitiative?
Ab April 2012 wird es einer Million Europäern, die aus mindestens sieben verschiedenen Staaten kommen, möglich sein, der EU-Kommission einen eigenen Gesetzesvorschlag vorzulegen. Dies können bisher nur das EU-Parlament und die Mitgliedstaaten. Spannend dabei ist, dass diese Unterschriften auch elektronisch gesammelt werden können. Somit erhält Europa das erste direktdemokratisch-transnationale-digitale Volksrecht!

Ist das nicht ein Alibi-Initiativrecht, die Entscheide fällen ja weiterhin die Politiker?
Es wird eine Herausforderung sein, dass erfolgreiche Initiativen von der Kommission so ernst genommen werden, dass sie tatsächlich zu einem «Agendasetting» auf der EU-Ebene beitragen können. Aber eine europäische Alpen-Initiative liegt beispielsweise durchaus in Reichweite und könnte somit die Frage der Güterverlagerung und Ökologie im Alpenraum über Landesgrenzen hinaus zum Thema machen. In Europa stehen spannende direktdemokratische Zeiten an.

Das «Initiative and Referendum Institute Europe» (IRI) gilt als der weltweit renommierteste Thinktank zu Fragen der direkten Demokratie.

Das Institut mit Sitz in Marburg / Deutschland publiziert Handbücher und Gebrauchsanleitungen zu den Volksrechten, organisiert Studienreisen und berät Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen auf der ganzen Welt.

www.iri-europe.org