19. November 2015

Über den Brenner führen vier Spuren und es fahren dort mehr als doppelt so viele Lastwagen wie am Gotthard: 1,9 Millionen waren es 2013. Doch am Gotthard droht derselbe Horror, denn mit einer 2. Röhre würde er zur kürzesten vierspurigen Strassenverbindung zwischen Nord- und Südeuropa. Eine Reportage von der Autofahrt zwischen Innsbruck (A) und Bozen (I).

Der Brenner zwischen Italien und Österreich ist mit einer Höhe von 1370 Metern über Meer der niedrigste Pass des Alpenhauptkamms. Schon die Römer haben ihn benutzt. Der Transitverkehr brachte in den folgenden Jahrhunderten den Städten Innsbruck und Bozen Reichtum und kulturellen Austausch. Italienische Ravioli wurden unter dem Namen «Schlutzkrapfen» zur Tiroler Spezialität. Eine Konferenz in Tirol hat uns nach Österreich geführt. Wir nutzen die Chance, um einmal von Innsbruck aus über den Pass zu fahren. Es herrscht schönstes Herbstwetter an diesem Freitag Anfang Oktober. Wir fahren an der berühmten Bergisel-Sprungschanze der englisch-irakischen Architektin Zaha Hadid vorbei und biegen dann auf die Brenner-Autobahn A13 Richtung Süden ein.

Zwei Spuren Lastwagen
Schon bald fahren wir an Lastwagenkolonnen vorbei. Sie haben Nummernschilder aus ganz Europa und mühen sich den Berg hinauf. Besonders an Baustellen wird es bedrohlich eng. Auf der Gegenseite das gleiche Bild. Lastwagen, Lieferwagen, Reisecars, Camper und der normale Personenverkehr. Die Brenner-Autobahn zwischen Österreich und Italien wurde 1971 eröffnet, zehn Jahre vor der Eröffnung des Gotthard-Strassentunnels. Über sie fährt heute viel mehr Schwerverkehr als über alle anderen Autobahnen in den Alpen. Von den fast zwei 2 Millionen Lastwagen pro Jahr sind über 80 Prozent reiner Transitverkehr, Tendenz weiter steigend.

Seit Jahren leidet die lokale Bevölkerung unter der Transitlawine. Und sie wehrt sich. «Durch Gift und Lärm werden vor allem Kindern und Senioren entlang der Autobahn Lebensqualität und Lebensjahre gestohlen», sagt zum Beispiel Christoph Moar. Der 42-jährige IT-Unternehmer ist Gründer der Bewegung «Frisch Luft – Aria Fresca» und seit 2010 Gemeinderat in Klausen im Südtirol (I). «Für die Bevölkerung entlang der Transitstrecken muss das Problem des ausgeuferten Transitverkehrs durch sofortige Massnahmen angegangen werden», fordert er. Zum gleichen Schluss kommt auch der Dachverband für Natur- und Umweltschutz Südtirol. Laut Geschäftsführer Andreas Riedl werden die Stickstoffwerte zurzeit um 50 bis 100 Prozent überschritten. Erhöhte Feinstaub- und Stickoxid-Werte lösen Asthma, Schlaganfälle und Lungenkrebs aus. «Doch statt etwas für den Gesundheits und Umweltschutz zu machen, nimmt die Politik lieber Strafzahlungen nach Brüssel in Kauf», so Andreas Riedl. Insgesamt seien im Südtirol 40’000 Personen direkt von überhöhten Stickoxid-Werten betroffen. Der Güterverkehr ist zu einem gewichtigen Teil für diese hohen Werte verantwortlich.

24 Spuren Maut-Station
Bald nach Innsbruck kommen wir zur flächenmässig riesigen Mautstelle Schönberg. Hier wird auf 24 Spuren das Geld für den Unterhalt der Bergautobahn eingetrieben. Doch selbst diese enorme Anlage reicht bei viel Verkehr nicht aus. Kilometerlange Staus sind die Folge. Die Strecke wird nun steiler, die Landschaft alpiner. Imposant thront die Brenner-Autobahn teilweise über dem Wipptal. Lange Reihen von Betonpfeilern pflanzen die Strasse an die steilen Hänge. Der österreichische Abschnitt der Brenner-Autobahn besteht zu fast einem Drittel aus Brücken. Das macht den Unterhalt entsprechend teuer.

Konrad Bergmeister, Professor an der Universität Wien und Präsident der Freien Universität Bozen, ist in Brixen im Südtirol an der Brennerachse geboren. Er war neun Jahre technischer Direktor und Chefingenieur der Autobahn auf Südtiroler Seite und sieht auch die positiven Seiten der Strasse. So habe die Autobahn die Ortschaften besser erschlossen. Doch auch er sagt: «Durch den derzeitigen Verkehr wird der Lebensraum entlang des Brennerkorridors dramatisch beeinträchtigt.» Konrad Bergmeister leitet seit 2006 auch die Aktiengesellschaft Brenner Basistunnel. Diese baut den Eisenbahn-Basistunnel zwischen Österreich und Italien, analog dem Gotthard-Basistunnel. Ende 2026 soll der Tunnel bereit sein. Für Bergmeister ist klar, dass am Brenner, gleich wie am Gotthard, kein Weg an der Verlagerung vorbeiführt: «Für die Verkehrsverlagerung und eine Dosierung entlang der einzelnen Korridore braucht es logistische, verkehrslenkende, länderübergreifende Massnahmen.»

Nach etwas mehr als einer Stunde Fahrt erreichen wir den Brennerpass. Dieser gleicht dem Industriegebiet in der Agglomeration einer grösseren Stadt. Links und rechts parkieren hunderte Lastwagen neben der Autobahn. Auf den Geleisen der Brennerbahn stehen Güterzüge. In dem riesigen Einkaufszentrum auf der westlichen Talseite warten gegen fünfzig «Brand Stores» berühmter Marken auf kauffreudige Kunden. Von Bergwelt, alpiner Identität und Natur ist hier nichts mehr zu spüren. Hier handelt Europa. Das Wetter wechselt von sonnig auf bewölkt. Je südlicher wir fahren, desto mehr Reben sehen wir. Schlösser und Festungen thronen an steilen Hängen und wachen über die nicht enden wollenden Kolonnen von Lastwagen und Autos.

Mir wird klar: Die Schweiz hat das Glück, dass der Gotthard-Basistunnel in wenigen Monaten eröffnet wird und der Güterverkehr auf die Schiene verlagert werden kann. 2 Millionen Lastwagen wie am Brenner kann sich niemand in der Schweiz wünschen. Verhindern wir eine 2. Strassenröhre am Gotthard, so verhindern wir auch Zustände wie am Brenner!

NEIN am 28. Februar 2016!
Der Bundesrat hat die Abstimmung über die 2. Strassenröhre am Gotthard auf den 28. Februar 2016 festgelegt. Wir sind auf Aktivistinnen und Aktivisten aus allen Ecken und Enden der Schweiz angewiesen. Helfen Sie mit, das unnötige Milliardenprojekt mit einem NEIN zu stoppen!