25. Juni 2012

Rund 1 Millionen Lastwagen fahren jährlich durch den Strassentunnel am Gotthard. Sie karren Rasierklingen von Belgien nach Mailand und Mozzarella von England nach Italien. Tatsächlich? Ja. Ein Tag im Mai.

tob. Der Gotthard-Strassentunnel ist wegen eines Pannenfahrzeugs kurz gesperrt. Die Lastwagen stauen sich im Schwerverkehrszentrum Ripshausen im Kanton Uri. Die Chauffeure warten in ihren Kabinen oder schwatzen zwischen den parkierten 40-Tönnern. «Wir wissen nie, wo wir stehen bleiben», sagt der deutsche Fahrer. Er bleibt gelassen, andere regen sich auf, zum Beispiel ein Italiener: «Hier warten wir immer, im Winter, wenn es nur ein bisschen geschneit hat, im Sommer, wenn die Polizei die Schweizer Lastwagen zuerst fahren lässt.»

Blumen, Motorenteile…
Kolonne 1: Zuhinterst ein Lastwagen, der von Belgien nach Mailand fährt und Rasierklingen, Rasierschaum und Batterien geladen hat. Der Chauffeur ist freundlich und zeigt die Lieferscheine. Vor ihm ein holländischer Lastwagen. Er fährt Blumen und Pflanzen von Aalsmeer nach Bergamo. Aalsmeer liegt südöstlich von Amsterdam. Der Ort zählt zu den grossen europäischen Blumenanbauplätzen und beherbergt eine riesige Blumenbörse. Mehrere Lastwagen mit Blumen und Pflanzen sind heute unterwegs von Holland nach Italien. Die Fracht wird gekühlt. «Ich warte hier, dabei sollte ich mich beeilen», sagt der Chauffeur. Er hadert nicht, das Schicksal scheint ihm unabänderlich. Der dritte Lastwagen hat Auto-Motorteile geladen und fährt von Mannheim in die Nähe von Como.
Die Chauffeure warten und fragen, wie lange sie noch warten müssen. Eine Stunde. Die meisten nicken ungerührt. Der deutsche Lastwagen fährt Luftfrachtcontainer von Frankfurt an die italienische Grenze. Der nächste, in Italien registrierte Lastwagen, hat Computer geladen, die von Amsterdam nach Mailand transportiert werden. Hätten die Computer nicht direkt an einen italienischen Hafen geliefert werden können? Der Chauffeur zuckt mit dem Schultern. Dann ein Lastwagen mit deutschen Kontrollschildern. Er transportiert Heizsysteme von Pforzheim in die Lombardei.

Wursthäute, Lammfleisch…
Weiter vorne steht ein französischer Lastwagen, der Fahrer ist jung. Er transportiert Wursthäute aus einem kleinen Ort in den Vogesen nach Mailand. Die Kunstdärme wurden industriell gefertigt und ersetzen die Naturdärme, in die früher die Fleischmassen gepresst wurden. Der Fahrer ist stolz auf seine Fracht. Vor ihm ein Rumäne, der Lammfleisch von Frankfurt nach Mailand bringt. Dort wird die Ware weiter verteilt. Und vor diesem Lastwagen ein Italiener, der Papier und Elektronikteile von Köln durch die Alpen nach Italien schafft. Der nächste ist ein Lastwagen auf einem Lastwagen, eine rollende Landstrasse auf der Strasse gewissermassen. «Wir haben mit den zwei Lastwagen zwei Wohnmobile von Italien nach Ostende in Belgien gebracht, jetzt fahren wir zurück – mit einem Lastwagen», sagt der Chauffeur. Und er fügt hinzu, dass ein zweiter Strassentunnel den Lastwagen, die hier stehen, sehr gelegen käme.
In der langen Reihe stehen alsdann: Ein Lastwagen aus Luxemburg, er transportiert Elektronikteile von Holland nach Genua, es sind wohl auch Computer, per Schiff angeliefert im Norden von Europa, bestimmt für Südeuropa. Der deutsche LKW fährt leer von Studen bei Bern – er hatte dort Autos abgeladen – nach Florenz. «In der Schweiz eine neue Fracht zu kriegen, ist praktisch unmöglich», sagt er. Ein britischer Lastwagen ist nach Mailand unterwegs, zum Ladegut will er nichts sagen. Gleich wie später der Holländer.
Er fürchtet um sein Ladegut: Die Transportfirma gibt ihm sogar die Rastplätze vor, an denen er halten darf und die vor Diebstahl sicher scheinen. Der polnische Lastwagen vor ihm ist beladen mit acht Occasionsautos aus Zürich. Er bringt sie an den Hafen von Savona, dort werden sie per Schiff nach Cotonou in Benin verfrachtet. Bestimmt sind sie für die Sahel Republik Niger.

Keilriemen, Käse…
Die Lastwagenkarawane setzt sich fort: Ein deutscher Lastwagen hat Pressholz in den Kanton Zürich geliefert, jetzt fährt er leer nach Italien. Ein Slowene transportiert, wie er selber sagt, allerlei von England nach Italien. Ein spanischer LKW hat Wein von Spanien in die Schweiz geliefert, jetzt fährt er leer durch den Gotthard, der Chauffeur ist gebürtiger Russe. Er bietet an, bei den Gesprächen mit den vielen Chauffeuren aus Osteuropa zu übersetzen. Er fährt zum ersten Mal durch die Schweiz. Ein deutscher LKW fährt fabrikneue Smarts von Hambach in Frankreich in die Nähe von Florenz. Ein Engländer hat in Newcastle Keilriemen aufgeladen und bringt sie nach Italien. Keilriemen? Warum werden sie auf der Strasse und nicht auf der Schiene transportiert, diese Ware ist doch alles andere als verderblich, aber brandgefährlich?
Ein deutscher LKW bringt Autowerkzeuge von Bondorf nach Italien. Der Rumäne hat im Kanton Luzern bei «Otto’s» Ware geladen und bringt sie nach Mailand. Ein Italiener fährt vier Paletten Reis und anderes von Schwyz nach Bologna. Dann steht da ein polnischer Sattelschlepper. Er hat in Mittelengland bei einem grossen Lager- und Verteilzentrum Mozzarella geladen und transportiert ihn über den Ärmelkanal quer durch Europa und die Alpen nach Italien. Die Ware wird stets auf 2 Grad Celsius hinuntergekühlt. Der Fahrer zeigt die Frachtpapiere, für ihn ein Transport wie jeder andere. Der Schreibende staunt.

Polystyrol, Knorr…
Muss das alles per Lastwagen durch die Alpen gefahren werden? Ist diese 1 Million Lastwagen pro Jahr nötig? Wären nicht viele Fahrten vermeidbar? Fast alles könnte ebenso gut mit der umweltfreundlichen Bahn befördert werden. Auf der Strasse geht es munter weiter: holländischer Lastwagen mit einem festgezurrten Camper unterwegs nach Italien; italienischer Lastwagen mit Polystyrol, von Frankreich kommend; slowakischer Lastwagen mit Teilen für Xerox-Geräte; ein Luxemburger mit Heizungspumpen; italienisch-rumänischer Sattelschlepper mit Salz von Nancy nach Italien. Der nächste Lastwagen hat Knorr-Suppe in Halbliter-Packungen geladen, er fährt das Material von Strassburg nach Lodi, südlich von Mailand. Dann ein Lastwagen voller Plastikgranulat, unterwegs von Deutschland nach Varese.

Noch mehr Transitverkehr?
Der Gotthard ist wieder offen, vorne fahren die Lastwagen weg, hinten kommen neue hinzu, jede Minute, jede Stunde, jeden Tag. Und es wären noch mehr, wenn der Gotthard für die Lastwagen nicht ein natürliches Hindernis darstellte. Laut Experten würden Tausende zusätzlicher Lastwagen die Schweizer Alpen durchqueren, wenn es am Gotthard eine zweite Strassenröhre gäbe. Die kurzfristigen Erschwernisse während der Sanierung des Strassentunnels dürfen deshalb unter keinen Umständen zum Vorwand genommen werden, eine zweite Röhre zu realisieren. Die Schweiz käme in Teufels Küche.