Jeden Tag fahren rund 30 Lastwagen mit gefährlicher Ladung über den Simplonpass. Das ist hoch riskant. Die Alpen-Initiative fordert deshalb ein Verbot für solche Transporte auf allen Passstrassen. Doch was wird eigentlich über den Simplon befördert?
cb. «Stop Toxique! / Stopp Gefahrgut!» Der Aufruf der Alpen-Initiative und ihrer Sympathisantinnen und Sympathisanten bei der Protestaktion auf dem Simplon ist unmissverständlich: Gefahrguttransporte über den Simplon sollen verboten werden. Rot leuchtet in der tief verschneiten Berglandschaft ein Verbotsschild, das Aktivistinnen und Aktivisten mit biologisch abbaubarer Lebensmittelfarbe in den Schnee gesprayt haben. Auf der Passstrasse daneben donnern Lastwagen vorbei. Haushoch türmen sich die Schneemassen am Strassenrand.
«Die Situation für die Anwohnerinnen und Anwohner ist untragbar geworden!», sagte Brigitte Wolf, Vorstandsmitglied der Alpen-Initiative aus dem Wallis, in ihrer Rede auf der Passhöhe. Heute entfallen 87 % der alpenquerenden Strassentransporte mit gefährlichen Gütern auf den Simplon. Deren Zahl hat in den letzten Jahren stark zugenommen: Waren es im Jahr 2000 noch ein paar Hundert, sind es heute über 10’000.
Gravierender Unfall
Im Jahr 2015 versagten bei einem 40-Tonnen-Lastwagen, der mit Aceton-Lösungsmittel beladen war, bei der Passabfahrt kurz vor Brig die Bremsen. Mit 100 km/h raste er über mehrere Kilometer die Strasse hinunter, fuhr über ein Viadukt hinaus und explodierte. Nur dank viel Glück gab es keine Toten. Ein Jahr davor war bei einer Haarnadelkurve bei Gondo ein Lastwagen umgekippt, der 24’000 Liter Leim geladen hatte. Der italienische Lastwagenfahrer blieb unverletzt, aber ein Teil des Leims lief aus und verschmutzte die Umwelt.
Das Bundesamt für Strassen (Astra) investiert auf dem Simplon seit 2008 jährlich 30 Millionen Franken in Sicherheitsmassnahmen. Bremsnotspuren, die Lastwagen mit defekten Bremsen zum Stoppen bringen sollen; Havariebecken, um «allfällig austretende Flüssigkeiten» aufzufangen; Aufprallschutz – alles da, falls der Unfall gerade an einer gesicherten Stelle passiert… Die Chauffeure werden zudem «mit Flyern auf die gefährlichen Kurven und Neigungen aufmerksam gemacht», wie es auf der Astra-Webseite heisst.
Statt Millionen in halbwegs taugliche Notmassnahmen zu investieren, solle der Bundesrat endlich das Problem bei der Wurzel packen und ein Verbot für Gefahrguttransporte erlassen, sagte Mathias Reynard, Vorstandsmitglied der Alpen-Initiative und Nationalrat aus dem Wallis, an der Aktion auf dem Simplon.
Nur am Simplon erlaubt
Der Simplon ist der einzige wichtige Alpenübergang in der Schweiz, über den auf der Strasse giftige Güter transportiert werden dürfen. Der Gotthard, der Grosse St. Bernhard und der San Bernardino sind dafür gesperrt. Weshalb ausgerechnet der Simplon nicht? Der Simplon ist der einzige, der in der entsprechenden Verordnung nicht unter den «Strassenstrecken mit Tunnel» aufgelistet ist, für die aus Sicherheitsgründen ein Durchfahrtsverbot für gefährliche Güter gilt.
Der Simplon besitzt zwar nicht einen solch langen Tunnel wie etwa der Gotthard, dafür weist der Pass zahlreiche andere gefährliche Stellen auf. Kurz nach Brig folgt die erste enge 180-Grad-Kurve und schon bald geht es rechterhand hunderte von Metern senkrecht ins Tal hinunter. Immer wieder fährt man durch Galerien und über Viadukte, die sich wie eine grosse Narbe kilometerweit den Hang entlang ziehen. Und dann ist da noch die Ganterbrücke, eine imposante rund 680 Meter lange und 150 Meter hohe Beton- und Stahlkonstruktion. Gleich nach der Passhöhe auf 2005 Metern über Meer folgt ein Warnschild: Achtung, 10 % Gefälle auf 19 Kilometern. Auf der Strecke nach Gondo folgen weitere solche Schilder und 180-Grad-Kurven.
Natronlauge und Bitumen
Rund drei Viertel der Gefahrguttransporte, die hier auf 2000 Metern über Meer hinauf- und wieder hinuntergekarrt werden, betreffen Lieferungen zwischen dem Wallis und der Genfersee-Region sowie Italien respektive Milano, heisst es im Verlagerungsbericht, den der Bundesrat 2017 präsentierte. Aber was wird da eigentlich genau transportiert? Und für wen?
Im Verlagerungsbericht wird insbesondere auf die chemische und agrartechnologische Industrie im Wallis verwiesen: Diese verursache einen Grossteil der Gefahrguttransporte am Simplon. Die Lonza, das grösste Chemieunternehmen im Wallis, gibt zwar an, über 95 % aller Transporte über die Schiene zu führen. Laut eigenen Angaben hat die Lonza aber im Jahr 2017 insgesamt 341 Gefahrgutladungen über den Simplon importiert und exportiert. Bei den angelieferten Gefahrgütern handelt es sich laut dem Unternehmen vor allem um Natronlauge für die Abwasserreinigungsanlage der Lonza und der umliegenden Gemeinden. Über die Zahl der Gefahrgutladungen, die von den Grosskunden direkt vor Ort abgeholt werden, konnte die Lonza allerdings keine genauen Angaben machen.
Was aber ist mit den anderen tausenden von Gefahrguttransporten? «Der grosse Teil dieser Transporte sind Bitumen-Transporte, von denen kein erhöhtes Risiko ausgeht», schreibt Verkehrsministerin Doris Leuthard in der Antwort auf das Postulat «Transport gefährlicher Güter auf der Schiene». Bitumen wird aus der Aufbereitung von Öl gewonnen und im Strassenbau als Bindemittel eingesetzt. So ganz ungefährlich ist Bitumen jedoch nicht: Die schwarze, flüssige Masse wird mit bis zu 200 Grad Celsius transportiert – und kann bei einem Unfall sehr schwerwiegende Folgen haben für Mensch und Umwelt.
Das Astra weiss nicht, was transportiert wird
Das Astra hat von 2015 bis 2016 an der Simplonstrasse eine Messkampagne zu Gefahrguttransporten durchgeführt. Die inNET Monitoring AG, welche die Messungen im Auftrag des Astra vornahm, verweist auf ihrer Webseite darauf, dass mit der automatischen Erfassungsanlage nicht nur der Anteil Gefahrguttransporte am Gesamtverkehr erfasst, sondern anhand einer Kamera auch die Gefahrgutplaketten der Lastwagen «erkannt und ausgelesen» wurden.
Die Alpen-Initiative wollte vom Astra wissen, welche gefährlichen Güter gemäss der Untersuchung denn genau über den Simplon gefahren werden: «Die Bestimmung der Güter war nicht im Fokus der Kampagne», sagt Astra-Sprecher Thomas Rohrbach. «Unsere Kampagne legte das Augenmerk vor allem auf die Anzahl und Art der Fahrzeuge und die Frage, wie viele davon Gefahrguttransporte sind und in welcher Richtung sie unterwegs sind.» Wo vorhanden und für die Kamera lesbar, seien die sogenannten Kemler-Zahlen erfasst worden, welche Rückschlüsse auf die transportierten Stoffe geben. Verschiedene Gefahrguttransporte seien jedoch nicht mit einer Gefahrennummer, sondern einfach mit einem orangen Warnschild gekennzeichnet. Oder die Warnschilder seien auf der Seite angebracht. «Leider kann ich nichts Genaueres sagen», so der Astra-Sprecher in einer schriftlichen Antwort.
Hier die Resultate des Astra:
- In Fahrtrichtung Wallis entfallen 25 % der Gefahrguttransporte auf gefährliche Substanzen wie Gase und gasförmige Stoffe, entzündbare flüssige Substanzen (Treibstoffe) und ätzende Stoffe. Zusätzlich werden 35 % der Gefahrgutladungen in der Kategorie «verschiedene weitere Stoffe» klassiert.
- In umgekehrter Richtung, das heisst vom Wallis nach Italien, beträgt der Anteil oben genannter gefährlicher Substanzen 16 %; 17 % sind verschiedene weitere gefährliche Stoffe.
- 40 % der Gefahrguttransporte ins Wallis sowie 67 % der Transporte nach Italien können werden.
Diese vagen Angaben erstaunen. Kann das Astra die Sicherheit garantieren, wenn es einen grossen Teil der Gefahrgüter nicht eindeutig identifiziert, die über den Simplon befördert werden? «Unsere Aufgabe ist es, infrastrukturseitig eine möglichst hohe Sicherheit zu bieten», sagt Thomas Rohrbach und verweist an den Schweizer Zoll. Doch auch dieser kann keine genauen Auskünfte geben. «Wir verfügen über keine Statistiken zu Gefahrenguttransporten – weder für die ganze Schweiz, noch für bestimmte Routen», so David Marquis, Mediensprecher der Eidgenössischen Zollverwaltung. Offiziell gibt es also keine präzisen Angaben dazu, welche gefährlichen Güter über den Simplon transportiert werden. Umso stossender ist es, dass der Bundesrat die gefährliche Situation weiter aussitzt und wie aus dem Verlagerungsbericht hervorgeht auf freiwillige Massnahmen der Industrie hofft!
Resolution
Das Risiko für schwerwiegende Unfälle am Simplon ist zu gross. Deshalb fordert die Alpen-Initiative ein Verbot für den Transport von gefährlichen Gütern auf der Passstrasse. Das hat sie einerseits mit einer Protestaktion auf dem Simplonunterstrichen, andererseits hat die Mitgliederversammlung Ende April eine Resolution zuhanden von Verkehrsministerin Doris Leuthard verabschiedet, in der ein Verbot für Gefahrguttransporte an allen Alpenübergängen gefordert wird.
Ebenso verlangt die Alpen-Initiative, dass das heute geltende Verbot am Gotthard aufrechterhalten wird, auch wenn die zweite Röhre gebaut wird. Für besonders gefährliche Güter wie Chlor fordert die Alpen-Initiative ein generelles Transportverbot, sowohl auf der Strasse als auch auf der Schiene.