Hansruedi Stadler, CVP, war Mitglied der Urner Regierung, prägte als Landammann das Bild des Bergkantons und vertrat bis vor einem Jahr Uri im Ständerat. Er ist Mitglied des Komitees „2 x NEIN zur 2. Röhre“ und bleibt seiner Haltung treu.
Foto: Christof Hirtler
Herr Stadler, Sie engagieren sich erneut in einem Abstimmungskampf, obwohl Sie sich aus der Politik zurückgezogen haben. Warum das?
Bei der Abstimmung vom 15. Mai geht es um die langfristigen Perspektiven für den Kanton Uri. Uri ist meine Heimat und liegt mir zutiefst am Herzen, da kann ich nicht schweigen. Deshalb habe ich meine Zurückhaltung bei der Kommentierung des politischen Tagesgeschäfts abgelegt, um die ich mich seit meinem Rücktritt aus dem Ständerat bemüht habe. Es geht um die Glaubwürdigkeit einer Verkehrspolitik, für die ich jahrelang gekämpft habe, die von vielen Menschen entwickelt und die an der Urne immer wieder eindrücklich bestätigt worden ist. Deren Eckpfeiler sind der Alpenschutz, die Neat, die LSVA. Diese Pfeiler dürfen wir nicht untergraben. In den letzten Wochen habe ich zudem stark gespürt, dass man von mir klare Aussagen zu den Abstimmungsvorlagen wünscht.
Wie erleben Sie den Abstimmungskampf?
Er wird erneut sehr emotional ausgetragen. Die gleichen Kreise, die schon immer eine 2. Röhre am Gotthard wollten, versuchen jetzt, massvolle Volksentscheide auszuhebeln.
Hätte Uri nicht endlich Ruhe, wenn die Schweiz die 2. Röhre bauen würde?
Das ist ein sehr trügerischer Schluss. Das Gegenteil ist der Fall. Die Initiative der JSVP und der Gegenvorschlag der Urner Regierung führen zum exakt gleichen Ergebnis: Beide Vorlagen haben zum Kern nicht bauliche Massnahmen zur Überbrückung der Sanierungszeit des Strassentunnels, sondern es geht um Vorarbeiten für zwei doppelspurig befahrene Tunnels. Das ist – ob wir es in Uri nun wollen oder nicht – die politische Realität. Deshalb sprechen die gleichen Gründe gegen eine 2. Röhre wie 2004, als sämtliche Kantone und über 60 Prozent der Schweizer Bevölkerung Nein zur 2. Röhre gesagt haben.
Aus Urner Sicht stellt sich die Frage aber anders als vor 7 Jahren. Es geht um eine Teilsperrung des Gotthardtunnels während dessen Sanierung.
Das stimmt. Aber die 2. Röhre ist keine geeignete Massnahme, die Sanierungszeit zu überbrücken. Eine zweite Röhre ist eine Milliarden schwere Investition in den Ausbau der Transitkapazitäten auf der Strasse. Man darf sich da wirklich keinen Illusionen hingeben. Die Urner Beteuerungen, man stehe für die Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene ein, werden nach einem Ja zu einer 2. Röhre nicht mehr glaubhaft vorgetragen werden können. Was so aussieht, als würde es Uri kurzfristig nützen, wird dem Kanton langfristig schaden. Wer wird uns Urnerinnern und Urnern helfen, wenn der Druck der europäischen Strassentransportlobby zu gross wird? Wer wird sich dafür einsetzen, dass die Kapazitäten einer 2. Röhren nicht voll genutzt werden? Nach einem Ja ist es dafür zu spät, dann kann Uri nicht mehr damit rechnen, dass der Transitverkehr in einem vernünftigen Mass durch den Kanton rollt. Sehen Sie: Ich habe mich immer für Uri eingesetzt, ob das der EU nun passt oder nicht. Wir haben Urner Anliegen zu vertreten, Uri darf nicht zum Wasserträger der EU werden.
Was hat denn das mit der EU zu tun?
Nicht nur in Bern, sondern auch in Brüssel wird man sehr genau registrieren, ob Uri sich neuerdings für die Strasse oder wie bis anhin für die Bahn entscheidet. Hinterher wird niemand mehr hinschauen, welches die genauen Motive für den Urner Entscheid waren. Es wird nur ein Signal wahrgenommen werden: Es geht – bei einem Nein – in der Schweiz weiter in Richtung Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene. Oder – bei einem Ja – die Schweiz rückt von ihrer Position ab und ebnet dem Strassentransitverkehr durch die Alpen den Weg.
Sie übertreiben.
Sie wissen so gut wie ich, dass dies die politische Realität ist. Und das wissen eigentlich alle: die Politiker in Bern, die Politiker in Brüssel, die Menschen in Uri. Dies müssten die Befürworter der beiden Vorlagen eigentlich offen und ehrlich zugeben. Wie der Wind aus der EU weht, zeigen die Beschlüsse des Verkehrsausschuss des EU-Parlaments von dieser Woche: Bei der Eurovignette soll es Vielfahrer-Rabatte geben, was die Alpen als Transitregion stark betrifft. Abgelehnt haben die EU-Politiker auch eine Zusatzgebühr für Lastwagen, die durch die ökologisch besonders sensiblen Alpen fahren. Für mich ist klar: Uri muss seine Prinzipien standhaft verteidigen und darf seine Trümpfe nicht verspielen, nur weil der Strassentunnel saniert werden muss.
Glauben Sie denn daran, dass ein Auto- und Lastwagenverlad genügt?
Die Sanierung ist für uns alle eine grosse Herausforderung. Aber die Varianten sind im Gegensatz zum Felssturz bei Gurtnellen von 2006 planbar. Wir haben 10 Jahre Zeit, um das Problem zu lösen. Es liegen bereits heute Varianten von Teilsperrungen vor, bei denen Uri keinen Schaden nimmt, sondern sogar profitieren kann und zusätzliche Arbeitsplätze entstehen. Das kann man im Bericht der Urner Regierung Schwarz auf Weiss nachlesen. Ich würde es begrüssen, wenn Uri seine ganzen Anstrengungen darauf richten würde, die Vorschläge des Bundes für einen Verlad in Sinne der Urnerinnen und Urner zu optimieren.
Was heisst das konkret?
Eine Teilsperrung ausschliesslich während der Wintermonate, unterstützt durch den leistungsfähigen Autoverlad zwischen Göschenen und Airolo sowie durch den Lastwagenverlad im neuen Neat-Tunnel von Erstfeld nach Biasca. Mit einer Teilsperrung haben wir keine Gefährdung von Arbeitsplätzen beim Schwerverkehrszentrum, bei der Raststätte oder bei den Zulieferbetrieben. Zusätzliche entstehen 150 Arbeitsplätz bei der Bahn. Falls die Sanierung nur in den Wintermonaten ausgeführt wird, eröffnen sich für das Bauhauptgewerbe in der auftragsärmeren Zeit ganz neue Möglichkeiten. Wird die Sanierung nur im Winter ausgeführt, so ergibt dies eine konstante Auslastung über eine längere Zeit. Das ist volkswirtschaftlich nicht nur sinnvoll, sondern auch wünschbar. Eine Sanierung in Rekordzeit hingegen führt dazu, dass unser klein strukturiertes Baugewerbe mehrheitlich auf der Strecke bleibt.
Heikel scheint der Landverlust zu sein, wenn während der Sanierung auf den Lastwagenverlad gesetzt wird. Was sagen Sie dazu, Sie sind doch der Sohn eines Landwirts und ihre Brüder bauern im Kanton Uri?
Während meiner politischen Tätigkeit habe ich mich ausnahmslos hinter die Anliegen der Bauernfamilien gestellt. Beim Lastwagenverlad geht es um eine Übergangszeit. Das Land wird nur vorübergehend beansprucht und die Fläche ist gering im Vergleich zu anderen Urner Projekten. Bei der NEAT etwa hat die Regierung vor kurzem einen Variantenentscheid getroffen, der sehr viel mehr Land verbraucht, und das nicht nur für einige Jahre, sondern für immer. Und: Wenn wir eine zweite Röhre bauen, dann wird Uri erst recht sein Bauernland opfern müssen – für eine dritte Spur von Flüelen bis Göschenen. Und auch das nicht für eine Übergangszeit, sondern für immer. Das dürfen wir auf keinen Fall ausblenden.
Malen Sie nicht etwas gar schwarz?
Heute fordert man die 2. Röhre, morgen die 3. Spur in der Reussebene und im Reusstal. Das wäre definitiv Raubbau am beschränkten Kulturland. Eine 2. Röhre wird eine enorme Sogwirkung haben auf der Gotthardroute. Doch wer in Uri hat ein Interesse an einer Situation wie am Brenner? Über diesen Pass fahren heute doppelt so viele Lastwagen wie am Gotthard, stellen Sie sich einmal vor, was das für das Reusstal bedeuten würde. Am Brenner, aber auch in der EU-Zentrale in Brüssel, freut man sich, wenn die Schweiz die 2. Röhre baut, da können Sie sicher sein. Das Land Tirol hat aufgezeigt, dass eine halbe Million Lastwagen nicht mehr die Brennerroute, sondern den Gotthard wählen wird, falls die Schweiz ihr Regime auf der Strasse lockert.
Sie sehen also auch die Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene gefährdet?
Nicht nur ich sehe das so. Die Urner Regierung schreibt wörtlich, es sei unbestritten, dass eine 2. Röhre das verfassungsmässige Verlagerungsziel gefährde. Warum denn sollten die Güter auf die Bahn, wenn wir die Transitstrassen mit einer 2. Röhre ausbauen? Zudem würde die Wirtschaftlichkeit der Milliardeninvestitionen in die Neat untergraben. Es gibt doch auf der ganzen Welt keinen Unternehmer, der Hunderte von Millionen in ein Projekt investiert und anschliessend dessen Wirtschaftlichkeit durch eine zweite Investition quasi vernichtet. Was ein Unternehmen nicht tut, sollte auch der Staat nicht machen. Jeder Franken, der für die 2. Röhre ausgegeben wird, fehlt für die Bauern, die Regionalpolitik, den Regionalverkehr usw.
Wegen der Sicherheit im Tunnel haben Sie keine Bedenken?
Im Bericht des Bundesrates kann man nachlesen, dass die Nationalstrassentunnels, und damit auch der Gotthardtunnel, die sichersten Streckenabschnitte überhaupt sind. Jeder Tote auf der Strasse ist für mich einer zu viel. Im Jahr 2009 haben leider 349 Menschen ihr Leben auf der Strasse lassen müssen. Auch wenn wir 100 Tunnels bauen, wird es immer menschliches Fehlverhalten geben, das zu Unfällen führt.
Wo muss die nationale Politik ansetzen?
Die Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene wurde von der Urner und der Schweizer Bevölkerung immer unterstützt. Dies ist ein verbindlicher Auftrag an Bundesrat und Parlament, nicht bloss ein frommer Wunsch. Doch es geht bei dieser Diskussion um viel Zentraleres.
Was meinen Sie damit?
Wollen wir jeden Mobilitätswahn durch ein Wettrüsten bei den Strasseninfrastrukturen befriedigen? Welchen Raubbau betreiben wir mit unseren Ressourcen? Welche Welt hinterlassen wir unseren Kindern? Sollen wir alles zusammenraffen, ganz nach dem Motto: Nach uns die Sintflut? Solche Fragen haben mit unserer Verantwortung gegenüber der Schöpfung zu tun. Von dieser Verantwortung habe ich mich immer leiten lassen, aus ihr habe ich die Grundsätze meiner politischen Haltung gewonnen.