Die Grenzstadt Chiasso ist 100 Kilometer vom Gotthard-Strassentunnel entfernt. Doch die Idee einer zweiten Röhre gefällt auch hier nicht. Ein Augenschein.
Gewaltige Lärmschutzwände flankieren den letzten Kilometer Autobahn in Chiasso vor der Landesgrenze nach Italien. Die Metall-Glas-Konstruktionen, entworfen vom Stararchitekten Mario Botta, säumen den Strassenteppich wie künstliche Baumgerippe. Und sie weisen gleich auf ein grundsätzliches Problem der Tessiner Grenzgemeinde hin: den überbordenden Verkehr, vor dem es die Einwohner zu schützen gilt.
Die letzte Autobahnausfahrt in Fahrtrichtung Süden ist Camions im Transit vorbehalten. Diese rollen hier über eine Rampe und eine Haarnadelkurve direkt auf den Warteplatz vor dem Zoll. An diesem Nachmittag ist der Parkplatz gut besetzt; Lastwagen aus ganz Europa stehen in Reih und Glied: Fahrzeuge aus Deutschland, den Niederlanden, Belgien, Kroatien und natürlich Italien. Chauffeure hetzen zu den Zollbüros, um sich die Papiere abstempeln zu lassen.
Lastwagen an Lastwagen
Camions so weit das Auge reicht. Italien und die Schweiz stossen hier direkt aufeinander, eigentlich sogar übereinander, weil die italienische Seite am Hügel liegt. Die Rampe in der italienischen Gemeinde Ponte Chiasso in Richtung Zollanlage verläuft oberhalb des Schweizer Warteplatzes, die LKWs rollen hier nach unten, um dann den Weg via Zollabfertigung in Richtung Gotthard oder San Bernardino einzuschlagen. Tausende von Camions, Tag für Tag.
Graffiti schmücken die hohe Mauer am Zoll, welche die beiden Länder trennt. Und sie sprechen eine klare Sprache: «Mal Aria!». Das ist gleichbedeutend für die Krankheit Malaria wie auch für «Schlechte Luft!». Daneben heisst es: «No al raddoppio». Und gemeint ist: Nein zur Verdoppelung des Gotthard-Strassentunnels, sprich Nein zur zweiten Röhre. «Sul treno» heisst es schliesslich auf einem aufgemalten Camion. Die Botschaft ist eindeutig: Camions gehören auf die Bahn.
«Eine Katastrophe»
Obwohl Chiasso mehr als 100 Kilometer von der Südeinfahrt des Gotthard-Strassentunnels in Airolo entfernt ist, ist das Thema einer zweiten Röhre auch hier präsent. Als kämpferischer einheimischer Gegner einer zweiten Röhre hat sich jüngst Anwalt Renzo Galfetti, einer der bekanntesten Strafverteidiger des Kantons Tessin, geoutet. «Eine zweite Röhre wäre eine Katastrophe», sagt Galfetti gegenüber dem «echo», «denn eine zweite Röhre würde mehr Verkehr anziehen.»
Eine Katastrophe wäre dies laut Galfetti nicht nur für Chiasso, sondern für das ganze Sottoceneri (südliches Tessin) mitsamt Lugano: «Lugano würde isoliert, weil es nicht mehr erreichbar wäre.» In einer Fernsehsendung des Privatsenders Teleticino zeigte Galfetti ein Diagramm, wie sich der Flaschenhals, der bei Stau am Gotthard-Tunnel entsteht, sich im Falle einer zweiten Röhre in die Grenzstadt verlagern würde. Dabei gibt es im Mendrisiotto wahrlich Verkehr genug. Es könne so nicht weitergehen, meint der eloquente Anwalt, denn dieses Gebiet leide bereits an einem Verkehrskollaps, weise eine hohe Luftverschmutzung mit extrem hohen Feinstaubwerten und einen überdurchschnittlich hohen Anteil an Atemwegserkrankungen bei Kindern auf. «Die Philosophie, die Verkehrsprobleme durch den Bau von immer mehr Strassen in den Griff zu bekommen, geht nicht auf», so Galfetti.
Galfettis Argumente gleichen denen, die von der Alpen-Initiative und Umwelt-
kreisen vertreten werden. Ist er ein Linker? «Überhaupt nicht, aber ich will diese Schematisierung durchbrechen, wonach die Rechte für eine zweite Röhre ist,
die Linke dagegen. Ich argumentiere für meine Kinder und die kommenden Generationen.»
«Wir sind ja nicht dumm»
So wie die Luftverschmutzung im Mendrisiotto grenzüberschreitend ist und die Gemeinden immer mehr zu einem grossflächigen Siedlungsbrei zusammenwachsen, sind auch die Bewegungen gegen die zweite Röhre am Gotthard und den konstanten Verkehrszuwachs längst regional organisiert. So kämpft die Umweltgruppe SOS Mendrisiotto Ambiente engagiert gegen eine zweite Röhre. «Wir sind ja nicht dumm: Wir wissen, dass eine Verdoppelung des Gotthard-Tunnels schnell zu einem Verkehrszuwachs im Südtessin führen würde», sagt Rolando Bardelli von SOS Mendrisiotto Ambiente, ein Hausarzt aus dem Dorf Balerna nahe Chiasso. Er weist darauf hin, dass in Chiasso allein in den Monaten Januar und Februar 2012 an 45 Tagen die Grenzwerte für Feinstaubkonzentrationen gemäss der Eidgenössischen Luftreinhalteordnung überschritten wurden. SOS Mendrisiotto Ambiente hat sich der Allianz Süd-Nord angeschlossen, in welcher 16 Umwelt- und Naturschutzorganisationen im Tessin gegen eine zweite Röhre ankämpfen und eine effizientere Verlagerungspolitik fordern; die Alpen-Initiative ist in dieser Allianz dabei (www.sud-nord.ch).
Rückstau von Camions
Die Gemeinde Chiasso hat bisher nicht offiziell für oder gegen eine zweite Röhre Position bezogen. «Dieses Thema hat für uns Gewicht», räumt Gemeindeschreiber Umberto Balzaretti auf Anfrage ein. Der Verkehr sei ein grosses Problem. Wenn
es wie jetzt schon zum Rückstau von Camions vor dem Warenzoll komme, sei die Sicherheit in Gefahr.
Im Wohnviertel hinter der gewaltigen Lärmschutzverbauung von Mario Botta verläuft ein Strässchen. Daneben jätet in einem Schrebergarten ein älterer Herr Unkraut. Haben die Lärmschutzwände etwas gebracht? «Ja schon, hier ist es ruhig, aber ein Problem ist geblieben: Abgase und Luftverschmutzung!