20. August 2012

Der Bundesrat will am Gotthard eine zweite Strassenröhre, aber nicht mehr Verkehr. Das geht nicht auf. Weder in Bezug auf die Sicherheit, noch für das Tessin, noch für den Schweizer Staatshaushalt. Die EU aber würde sich freuen.

tob. Eine Sanierung des Gotthard-Strassentunnels ist ohne vorgängigen Bau einer zweiten Röhre möglich. Das haben sowohl die Experten des Bundesrats als auch jene der Alpen-Initiative mit Fakten belegt. Dennoch entschied sich der Bundesrat Ende Juni anders. Das ist aus mehreren Gründen unverständlich:

Sicherheit: Nach dem Lastwagenbrand 2001 sind im Gotthardtunnel umfassende Verbesserungen vorgenommen worden. Die Zahl der Unfälle nahm markant ab. In den letzten 10 Jahren starben im Tunnel 6 Personen. Im gleichen Zeitraum kamen auf Schweizer Strassen weit über 3000 Menschen ums Leben. Die Beratungsstelle für Unfallverhütung (bfu) sieht keinen Sicherheitsgewinn in einer zweiten Röhre. Allein bei 3 Prozent mehr Verkehr würde sich das Risiko für Unfälle auf der ganzen Transitachse sogar erhöhen.
Tessin: Vor der Sanierung des Strassentunnels wird der neue Eisenbahn-Basistunnel am Gotthard eröffnet, der die Reisezeiten massiv verkürzt. Das Tessin wird keineswegs isoliert sein, da dank eines leistungsfähigen Bahnverlads für Lastwagen und Autos der Kanton auch auf der Strasse stets erreichbar sein wird. Der Verlad am Gotthard ist machbar, das haben alle Studien bewiesen. Der südliche Teil des Tessins leidet schon heute überdurchschnittlich unter der Transitlawine. Krebs- und Atemwegserkrankungen liegen hier über dem Schweizer Durchschnitt und betreffen vor allem Kinder und Betagte. Mehr Verkehr erträgt insbesondere das Mendrisiotto nicht.
Notsanierung: Bevor die zweite Röhre betriebsbereit wäre, müsste der alte Strassentunnel notsaniert werden. In einem solchen Fall gäbe es kein Ersatzangebot auf der Bahn und das Tessin wäre mit den 140 Tagen Totalsperre des Tunnels sehr schlecht bedient. Das Chaos auf der San Bernardino-Route wäre vorprogrammiert.
Kosten: Eine zweite Strassenröhre käme mindestens 1 bis 1,5 Milliarden Franken teurer als die Sanierung inklusive Ersatzangebot auf der Schiene. Wird am Gotthard die Luxusvariante gewählt, werden Projekte in anderen Landesgegenden aufgeschoben oder gestrichen. Da helfen auch anderslauten-de Beteuerungen nichts. Mit zwei Röhren würden sich zudem die jährlichen Unterhaltskosten massiv erhöhen. Auch dieses Geld würde anderswo fehlen.
Pannenstreifen: Der Bundesrat verspricht, auch bei zwei Röhren die vier Spuren nicht voll zu nutzen, sondern in jeder Röhre einen Pannenstreifen frei zu lassen. Er will das im Gesetz festschreiben, aber Gesetze lassen sich problemlos abändern. Und schon heute wird bei Morges auf Pannenstreifen gefahren. Das Departement von Doris Leuthard will zudem in den nächsten Jahren auf über 125 Kilometern Autobahn die Pannenstreifen zu Spitzenzeiten für den Verkehr freigeben. Dies unter dem Titel «Sicherstellung des Verkehrsflusses». Was das für den Gotthard bedeutet, ist leicht auszudenken.
Signal: Folgt das Parlament dem Bundesrat, so werden sich die Strassentransporteure und die EU an der zweiten Strassenröhre orientieren und langfristig auf Lastwagen setzen. Zudem werden weder Deutschland noch Italien die Neat-Zufahrtslinien rasch bauen wollen. Das widerspricht der vom Schweizer Volk mehrfach geforderten Verlagerungspolitik.
Verlagerung: Mit einer zweiten Strassenröhre wird die Verlagerung des Transitgüterverkehrs auf die Schiene untergraben. Das Volk aber hat in mehreren Abstimmungen diese Verlagerung verlangt und deshalb rund 20 Milliarden in die Neat investiert.
Umwelt: Die Alpen sind nachgewiesenermassen ein ökologisch hoch sensibles Gebiet. Sie verdienen deshalb einen besonderen Schutz vor dem Transitverkehr. Die Bahn ist und bleibt das umweltschonendere Transportmittel als die Lastwagen.
EU: Die EU hat freudig auf die Ankündigung des Bundesrats reagiert und klar gemacht, dass sie in der zweiten Röhre eine willkommene Ausweichroute sieht, sollte es anderswo Schwierigkeiten geben. Mit einer zweiten Röhre legt die Schweiz der EU den roten Lastwagenteppich aus.
Zeit: Eine Sanierung ohne zweite Röhre könnte ohne Volksabstimmung sofort geplant werden. Der Plan einer zweiten Röhre aber provoziert eine Abstimmung, verzögert die Sanierung und die Verantwortlichen riskieren den politischen Scherbenhaufen. Das dient weder der Sicherheit noch dem Tessin. Das dient niemandem, ausser der Lastwagenlobby.
Volksrechte: Die Demokratie verbietet es, Fakten zu schaffen und erst im Nachhinein über dazugehörige Verfassungs- oder Gesetzesänderungen
abzustimmen. Der politische Trick mit den halb genutzten Tunnelröhren widerspricht der Schweizer Tradition.

Die Alpen-Initiative hatte auf den Entscheid des Bundesrats unmissverständlich reagiert. In einer Medienmitteilung hielt sie fest, dass der Bundesrat dem Tessin ein vergiftetes Geschenk machen wolle – gute Verbindung versprechen, um nachher de facto mehr Lastwagen zu schicken. Auch andere Organisationen haben scharf kommentiert. Mountain Wilderness etwa schrieb, mit dem Entscheid für einen zweiten Gotthard-Strassentunnel setze der Bundesrat ein Zeichen für eine rückwärtsgewandte Verkehrspolitik. Pro Bahn hielt fest, die Schlaumeierei, wonach jeweils nur eine Strassenspur je Richtung geöffnet werde, könne nicht ernst genommen werden.

Der VCS fand besonders beschämend, dass der Bundesrat der Bevölkerung einen Bären aufzubinden versuche. Die Tessiner Koalition «Für eine nachhaltige und zuverlässige Süd-Nord-Verbindung» hält das Versprechen, eine zweite Röhre zu bauen und dabei die Kapazität nicht zu erhöhen, für ein blosses Sprachspiel.